Susan Boos
Preis für das Gesamtwerk
Susan Boos, Jahrgang 1963, wuchs in St. Gallen auf und absolvierte eine Ausbildung zur Primarlehrerin im Seminar Rorschach im Kanton St. Gallen. Von 1984 bis 1991 war sie für die «Ostschweizer Arbeiterzeitung» («AZ») in St. Gallen tätig, ab 1989 als Redaktorin. Parallel dazu studierte sie mehrere Semester Jus, Ethnologie, Politologie und Publizistik an der Universitäten St. Gallen und Zürich. 1991 wechselte sie zur Zürcher «WOZ – Die Wochenzeitung», wo sie von 2005 bis Ende 2017 Redaktionsleiterin war.
Boos unterrichtet seit vielen Jahre an der Medienschule St. Gallen und am Medienausbildungszentrum (MAZ). Sie publizierte mehrere Bücher zur Atomund Energiepolitik. Ihr jüngstes Buch «Auge um Auge» beschäftigt sich mit der Sicherungsverwahrung. Seit 1. Januar 2021 ist sie die Präsidentin des Schweizer Presserates.
laudatio
von christina neuhaus
Wir Medienmenschen gehören einer eitlen Branche an. Wir küren uns gegenseitig zu Journalistinnen oder Journalisten des Jahres. Und weil jeder lesen will, wer auch noch einen Preis gewonnen hat, schaffen wir Untersektionen (Lokaljournalistin des Jahres, Gesellschaftsjournalist des Jahres, Newsticker-Journalistin des Jahres) und vergeben auch gleich noch die Plätze 2 bis 200 in jeder Kategorie. Das äussert sich dann oft in Selbstmarketing in den sozialen Netzwerken: «Vielen Dank allen, die mich auf Platz 154 als Bildlegendenverfasser des Jahres gewählt haben!»
Die Zeiten, als sich die Verfasserinnen und Verfasser von Texten hinter bescheidenen Kürzeln versteckten, sind vorbei. Heute sollen Autorinnen und Autoren zu Marken werden. Das erhöht die Aufmerksamkeit des Publikums, stärkt den Auftritt des Arbeitgebers und das Ego der Verfasserinnen und Verfasser.
Da gibt es den Kollegen, der, Teufel auch, seine Leserinnen und Leser mit «Ladies and Gentlemen» anspricht. Oder den Kollegen, der in jedem Text – wie bei einem Ringwurfspiel – ein paar Klammern auswirft.
Susan Boos, die dieses Jahr den Zürcher Journalistenpreis für ihr Lebenswerk erhält, ist keine Marke. Sie ist eine Klasse für sich. Susan Boos’ Texte sind so klar, intelligent und schnörkellos wie sie selbst. Ob sie über das Jugendstrafrecht schreibt, über die täglichen Herausforderungen von Menschen mit Behinderungen oder über Atomkraft: Immer geht es um die Sache, immer ist der Text fundiert, und immer sind ihre Leserinnen und Leser danach bestens informiert– und stets auch ein wenig klüger.
Als Leiterin der «NZZ»-Inlandredaktion vertrete ich oft eine andere politische Haltung als Susan Boos, die erst für die «Ostschweizer Arbeiterzeitung» in St. Gallen und ab 1991 für die «Wochenzeitung» schrieb. Die «Neue Zürcher Zeitung» ist bürgerlichliberal, die «WOZ», laut Selbstbeschreibung, «links und unabhängig».
Die «WOZ» ist nicht Susan Boos, und Susan Boos ist nicht die «WOZ». Doch der Claim der Zeitung, die Susan seit über 30 Jahren mitprägt, passt auch zu ihr. Sie ist links, aber sie ist vor allem unabhängig. Es ist die Haltung, die ihr Schreiben prägt; nicht der Zeitgeist, dieser opportunistische Gestaltwandler. Susan schreibt für keine Bubble und würde wohl auch dem Druck aus dem Newsroom trotzen, wenn die «WOZ» einen Newsroom hätte. Als Journalistin verharrt sie nie in der eigenen Komfortzone, sondern geht dorthin, wo das Denken anstrengend und herausfordernd wird.
Als die «WOZ» 2005 beinahe Konkurs anmelden musste, weil sich das Kollektiv mit einer steilen Ausbaustrategie übernommen hatte, wurde Susan Boos zur Redaktionsleiterin gewählt. Zwölf Jahre lang erfüllte sie diese Aufgabe mit grosser Ruhe und grossem Geschick. 2017 gab sie die Leitung wieder ab, wie sie sie übernommen hatte: ohne grosses Aufheben zu machen. Sie ist wie Mary Poppins. Wenn der Wind dreht, wenn sie nicht mehr gebraucht wird, geht sie.
Seit 2021 ist Susan Boos die Präsidentin des Schweizer Presserats, und auch dort bleibt sie sich und ihren journalistischen Werten treu: unabhängig, unerschrocken und stets der journalistischen Ethik verpflichtet.
Es freut mich deshalb sehr, dass ich Susan Boos den Zürcher Journalistenpreis für ihr Lebenswerk übergeben darf. Natürlich ist auch dieser Preis nicht frei von der Eitelkeit der Branche. Den Zürcher Journalistenpreis erhält aber nicht, wer die grösste Followerschaft hat und in den sozialen Netzwerken entsprechend mobilisieren kann, sondern wer die unabhängige und durchaus streitbare Fachjury überzeugt. Susan hat uns alle überzeugt. Die Auszeichnung für Susans Lebenswerk gilt ihren Werken ebenso wie ihrem Wirken.
Susan, mögest Du noch lange werken und wirken! Die Branche braucht Dich – und alle, denen Du ein Vorbild bist.
Verwahrung: «Waschen, kochen, kann ich das überhaupt noch?»
Ein Anwalt fordert vor Bundesgericht, dass Verwahrte nicht wie Strafgefangene untergebracht werden dürfen, und erringt einen wichtigen Etappensieg. Sein Klient erzählt, was es mit einem macht, wenn man dreissig Jahre lang keine Tür selber öffnen darf.
Erschienen am 10. August 2023
Von Susan Boos (Text) und Ursula Häne (Fotos)
Frau Krucker stellt selbstgebackenen Kuchen auf den Tisch, hält einen Moment inne und sagt: «Wissen Sie, das Wichtigste wäre, dass er endlich mal herkommen dürfte und sagen könnte, was ich wegwerfen kann und was er noch behalten möchte.» Ein harmlos klingender Satz, der es in sich hat. Wenn man Frau Krucker bittet, die Geschichte ihres Sohns Toni von Anfang an zu erzählen, kämpft sie gegen Tränen an. Dabei ist der Mord schon vor über dreissig Jahren geschehen. Sie fragt sich bis heute, was sie vielleicht falsch gemacht hat. Eine Frage, die sich nicht beantworten lässt.
Frau Krucker trägt eigentlich einen anderen Namen, und Toni heisst nicht Toni. Er wird später im Gespräch sagen, seine Mutter treffe sicher keine Schuld, er habe das alles selber zu verantworten.
Kurz zusammengefasst bringt Toni Krucker im Herbst 1989 eine ältere Dame um. Als sie schon tot ist, vergeht er sich sexuell an ihr. Es war kein geplanter Mord, aber eine brutale, schreckliche Tat, wie er heute selber sagt. Krucker ist damals zwanzig Jahre alt. Seine Mutter sagt, er sei ein problemloses Kind gewesen, gut in der Schule, stets freundlich. Für sie kam es völlig überraschend, als die Polizei damals an ihrer Haustür klingelte und Toni mitnahm. Seither war er nie mehr zu Hause, und Frau Krucker hütet bis heute all die Sachen, die er in seinem Zimmer hatte.
Das Gericht verurteilte Toni Krucker zu sechzehn Jahren Haft. Gemäss dem psychiatrischen Gutachten gilt er als gefährlich, weil er für sein Opfer keine Empathie empfunden habe. Das ist mit ein Grund, weshalb er 2005 – nachdem er seine Strafe abgesessen hat – nicht freikommt, sondern nachträglich verwahrt wird und bis heute weggesperrt ist.
Frau Krucker besucht ihren Sohn regelmässig. Sie hat viele Gefängnisse kennengelernt, weil er mehrmals verlegt wurde. Bei den einen darf man während des Besuchs nicht aufs WC gehen. Bei anderen sind die Angestellten unfreundlich. In Deitingen, in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Solothurn, sei das anders, sagt Frau Krucker. Dort seien sie höflich und sehr zuvorkommend. Seit Dezember 2021 ist Krucker in dieser Justizvollzugsanstalt am Fuss des Jura untergebracht. Erwirkt hat das der Zürcher Rechtsanwalt Stephan Bernard. Frau Krucker hatte ihn kontaktiert. Bernard schaute sich den Fall an und kam zum Schluss: Was die Behörden mit Krucker machen, verstösst gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Er beschliesst, den Fall zu übernehmen und wenn nötig bis nach Strassburg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu ziehen.
Sinn des Strafens
Vier Jahre nachdem Krucker seine Tat begangen hat, geschieht am Zollikerberg ein anderer Mord, der den Strafvollzug radikal umwälzen wird. Ein Häftling auf Freigang bringt die Pfadiführerin Pasquale Brumann um. Plötzlich wird man in der breiten Öffentlichkeit gewahr, dass manche Täter – insbesondere Sexualdelinquenten – auch nach Verbüssung der Strafe noch gefährlich sein können. Gefährliche sollen deshalb künftig nach der verbüssten Strafe nicht freikommen. Die Verwahrung ist explizit keine Strafe, die betroffenen Personen werden jedoch zum Schutz der Gesellschaft unbefristet gesichert untergebracht. Das neue Verwahrungsgesetz tritt allerdings erst Jahre nach Kruckers Verurteilung in Kraft.
«Die Verwahrung ist explizit keine Strafe, die betroffenen Personen werden jedoch zum Schutz der Gesellschaft unbefristet gesichert untergebracht.»
Anwalt Bernards Ziel ist nicht, seinen Klienten freizubekommen. Er will erreichen, dass Verwahrte in der Schweiz nicht länger wie Strafgefangene leben müssen, da sie ihre Strafe ja verbüsst haben. Um zu verstehen, worum es geht, muss man sich die Logik des Systems vergegenwärtigen: Jemand begeht eine Tat, kommt vor Gericht, das verhängt je nach der Schwere der Tat eine Strafe. Man spricht von Verschuldensstrafrecht – je schwerer die Tat, desto schwerer die Schuld und desto länger die Strafe. Täter:innen büssen, indem sie während des Strafvollzugs ein karges, fremdbestimmtes Leben führen müssen. Sie dürfen nicht über ihre Zeit verfügen, dürfen sich nicht frei bewegen, dürfen nur eingeschränkt mit Menschen Kontakt halten. Verwahrte wie Krucker haben ihre Strafe verbüsst, werden aber – eben um die Gesellschaft zu schützen – nicht entlassen. Jurist:innen reden von einem «Sonderopfer», das die Verwahrten zu erbringen haben. Schlüssig wäre, dass sie nach der Strafe nicht freikommen, jedoch in einer gesicherten Institution ein so weit wie möglich normales Leben führen können. In der Schweiz geht das nicht, weil Verwahrte im normalen Strafvollzug verbleiben.
Stephan Bernard will das ändern. Im Sommer 2021 stellt er für seinen Klienten beim zuständigen Amt für Justizvollzug ein Gesuch. Er fordert eine bessere Unterbringung ausserhalb des normalen Strafvollzugs. Das Amt reagiert rasch und teilt knapp zwei Wochen später mit: Man bemühe sich, Krucker in die Wohngruppe «Verwahrungsvollzug in Kleingruppen» in der JVA Solothurn zu verlegen. Ende 2021 zieht Krucker ins sogenannte Haus C ein. Für ihn beginnt ein neues Leben.
die verwahrte
Toni Krucker ist nicht sehr gross, kräftig gebaut, trägt einen gepflegten Bart und hat ein offenes Lächeln. Das erste Treffen findet in einem der normalen Besucher:innenzimmer der JVA statt, ein schmuckloser Raum mit zwei Stühlen und einem Tisch. Krucker redet mit ruhiger, sonorer Stimme. Man merkt, dass er schon viel über sich, seine Tat und die Verwahrung nachgedacht hat. Wenn man ihn fragt, wie ein junger Mann dazu kommt, etwas so Schreckliches zu tun, weicht er nicht aus. Ganz erklären kann er den Mord nicht. Er sei nicht mehr derselbe, habe viel gelernt und würde nie mehr eine solche Tat begehen, davon sei er überzeugt. Doch um die Tat geht es jetzt nicht, sondern um seine Unterbringung.
«Mir wurde erst hier bewusst, wie abgestumpft ich in all den Jahren Strafvollzug geworden bin.»
Der Alltag im Haus C tue ihm gut, sagt er. Das Haus war vor Urzeiten einmal der Wohnsitz des Gefängnisdirektors, ein Einfamilienhaus auf dem Territorium der Strafanstalt. Sechs Verwahrte wohnen darin in einer Wohngemeinschaft zusammen. «Mir wurde erst hier bewusst, wie abgestumpft ich in all den Jahren Strafvollzug geworden bin», sagt Krucker. «Es gibt hier viel mehr Selbstund Mitbestimmung. Es sind kleine Sachen wie selber waschen oder kochen. Man kann darüber lachen, aber am Anfang hatte ich vor gewissen Sachen Angst und fragte mich: Kann ich das überhaupt? Erst nachdem ich hier eingezogen war, realisierte ich, wie normal der Strafvollzug für mich geworden war.» Er veranschaulicht, was er damit meint: «Ich kann mich erinnern, wie ich vor einer geschlossenen Tür stand und wartete, dass man sie mir aufschliesst. Ich habe gar nicht realisiert, dass die Tür nicht abgeschlossen war und ich sie selber öffnen konnte.» Die Beschwerde Abgesehen von der Verlegung ins Haus C blitzt Rechtsanwalt Bernard mit seiner Beschwerde bei allen kantonalen Instanzen ab. Im November 2022 zieht er den Fall vor Bundesgericht. Die Beschwerdeschrift enthält eine detaillierte Übersicht über die internationalen Normen und die entsprechende Rechtsprechung zur Verwahrung. Vor einigen Jahren fällte der Gerichtshof für Menschenrechte einen wichtigen Entscheid. Darin hielt er fest, bei der Verwahrung handle es sich um eine Strafe, da sich der Verwahrungsvollzug nicht wesentlich vom Strafvollzug unterscheide. Das verstosse gegen die Menschenrechtskonvention, weil es nicht rechtens sei, jemanden für eine Tat zweimal zu bestrafen. Oder um es mit Toni Kruckers Fall zu veranschaulichen: Nachdem er seine Strafe verbüsst hatte, änderte sich an seiner Haftsituation nichts, ausser dass er in der Statistik nun unter den Verwahrten geführt wurde. Real verbüsst er also ein zweites Mal eine Strafe von sechzehn Jahren – erst als er ins Haus C verlegt wird, normalisiert sich sein Alltag.
Das besagte Urteil des EGMR war von einem Verwahrten aus Deutschland erwirkt worden. Das Land hat heute einen anderen Umgang mit Verwahrten. Es gilt das sogenannte Abstandsgebot. Den Begriff prägte das Bundesverfassungsgericht, das entschieden hatte, die unbefristete Verwahrung sei zwar rechtens, aber so, wie sie umgesetzt werde, verstosse sie gegen die Verfassung. Der entscheidende Satz des Urteils: Im Ergebnis müsse «sichergestellt sein, dass ein Abstand zwischen dem allgemeinen Strafvollzug und dem Vollzug der Sicherungsverwahrung gewahrt bleibt». Verwahrte dürfen demnach nicht zusammen mit «Mir wurde erst hier bewusst, wie abgestumpft ich in all den Jahren Strafvollzug geworden bin.» Zürcher Journalistenpreis 2024 13 Strafgefangenen eingesperrt werden und haben Anspruch auf ein möglichst normales Leben.
Deutschland hat danach diverse neue Abteilungen für Verwahrte gebaut, in denen diese mehr Freiraum geniessen als in normalen Gefängnissen. Sie haben grössere Zimmer mit Dusche und WC, haben Anspruch auf begleiteten Ausgang, können mehr oder weniger frei nach draussen telefonieren, dürfen selber kochen, öfter Besuch empfangen. Und es muss ihnen eine Entlassungsperspektive geboten werden. Alles Dinge, die Anwalt Bernard mit seinem Klienten Krucker auch für Schweizer Verwahrte erreichen möchte.
Das Haus C
Ein zweites Treffen mit Toni Krucker steht an, diesmal im Haus C. Charles Jakober, Direktor der JVA Solothurn, hat vorgängig die Bewohner gefragt, ob sie einverstanden seien, wenn eine Journalistin und eine Fotografin kämen. Das Haus C liegt in der westlichen Ecke der JVA, gleich neben der betriebseigenen Gärtnerei. Rundherum Gitter, keine Mauern. Dahinter hört man den Verkehr auf der Autobahn Bern– Zürich rauschen.
Toni Krucker und ein WG-Kollege – nennen wir ihn Kurt Koller – erwarten uns, bereit, ihr Haus zu zeigen. Im Parterre links liegt das Büro der Betreuer:innen, rechts eine Kabine mit dem Telefon, das die Bewohner frei benutzen können. Geradeaus befindet sich das Zimmer von Toni Krucker. Es ist nicht sonderlich gross, hat in der Ecke hinter einem Vorhang eine Toilette, rechts hinter dem Schrank steht ein Bett und am Fenster ein Pult mit Computer. Sie würden hier nicht von Zellen, sondern von Zimmern sprechen, sagt Krucker, «das macht es persönlicher». Nachts werden die Türen der Zimmer abgesperrt. Es gebe Diskussionen, ob man die Türen nicht offen lassen könnte. Manche Gefangene haben mit klaustrophobischen Ängsten zu kämpfen. Kruckers WG-Kollege Koller wirft ein, ihm mache das nichts aus, wenn abgeschlossen werde, «dann hat man seine Ruhe». Krucker nickt zustimmend, ihm gehe es gleich.
Wir gehen eine Treppe höher auf den Zwischenstock, wo sich der Wohnbereich der WG befindet. Links eine moderne Küche, rechts die Stube mit Sofa und Fernseher. Auf diesem Stock kann man raus auf eine grosse Terrasse mit einem Tisch und zahlreichen Blumentöpfen mit Kräutern und Erdbeerstauden.
Kurt Koller steht bereit, um sein Zimmer zu zeigen. Früher war auch er in einem anderen Gefängnis verwahrt, lebt aber schon seit vielen Jahren hier.
«Was ist der Unterschied?»
«Wie Tag und Nacht, es ist sehr gut hier.»
«Was gefällt Ihnen nicht im Haus C?»
«Für mich ist eigentlich alles gut. Ich bin jetzt 68 Jahre alt. Habe hier im Gefängnis eine gute Arbeitsstelle. Alle zwei Monate habe ich begleitete Ausgänge und kann mich mit Angehörigen treffen. Ich brauche nicht mehr.»
Ja, der Ausgang könnte etwas länger sein. Fünf Stunden sei etwas kurz.
Er geht hoch zu seinem Zimmer gleich unterm Dach. Es ist etwas grösser als das von Krucker, aber ähnlich eingerichtet. Seit langem leidet Koller unter Rückenproblemen, die in den anderen Gefängnissen nie behandelt worden seien. Hier hätten sie sich darum gekümmert. Seit er die AHV-Rente erhalte, habe er auch keine Geldprobleme mehr. Er habe sich eine Spezialmatratze kaufen können. Jetzt schlafe er «wie ein Herrgöttli».
Die Männer im Haus C können unter Aufsicht übers Internet Dinge bestellen – das dürfen die anderen Gefangenen nicht im gleichen Umfang.
Gibt es nie Streit in der Sechs-Männer-WG? Krucker sagt, manchmal hänge einer das Alphatierchen raus, aber insgesamt kämen sie gut zurecht. Koller erinnert sich an einen, der eine gewisse Zeit im Haus C war. Einer, der sich partout nicht anpassen wollte. «Das war schwierig», sagt er, «wenn der nicht gegangen wäre, hätte ich um eine Verlegung gebeten.» So weit kam es nicht, der Störer wurde verlegt.
Die sechs Männer wissen, dass ihre Chancen, jemals entlassen zu werden, gegen null tendieren. Sie wissen aber auch, dass das Haus C der beste Ort ist, den es für Verwahrte in der Schweiz gibt. Das wollen sie hüten und bitten uns, ihre kleinen Privilegien dezent zu beschreiben, um draussen keine Empörung zu entfachen. Sie können in den Werkstätten des Gefängnisses arbeiten, dürfen an den Freizeitaktivitäten der Anstalt teilnehmen und sind ständig in Kontakt mit den anderen Gefangenen. Darunter gibt es ein halbes Dutzend, die ebenfalls verwahrt sind – wie einer der bekanntesten Schweizer Verwahrten, Peter Vogt (siehe WOZ Nr. 13/22).
«Die sehen uns regelmässig und wissen, dass wir Privilegien haben, die sie nicht haben», sinniert Krucker, «das ist manchmal ganz schön schwierig. Es sollte doch viel mehr solche Kleingruppen für Verwahrte geben, damit alle so leben können wie wir.» (vgl. «Neue Abteilungen geplant»)
Der Gefängnisdirektor
Nach dem Besuch in Haus C nimmt sich Direktor Charles Jakober noch Zeit. Er fände es gut, wenn jedes grössere Gefängnis eine vergleichbare Spezialabteilung hätte, sagt er und erklärt, warum: «Einer aus der Verwahrtengruppe hat einmal zu mir gesagt: ‹Ich bin einfach froh, dass wir im Haus C unter uns sind. Vorher war ich mit anderen Gefangenen zusammen, und das war ein ständiger Spiessrutenlauf.› Der Mann schilderte, wie das sonst so abläuft: ‹Man muss sich in der Gruppe eine Position schaffen, damit man seine Ruhe hat – aber kaum hat man sich positioniert, kommt ein Neuer, und die ganze Tortur beginnt von neuem.›»
Die Männer von Haus C haben eine gewisse Berühmtheit. Jeder sei mindestens einmal im «Blick» auf der Titelseite gewesen, sagt Jakober, «das ist etwas, was sich unter Gefangenen herumspricht. Da heisst es schnell: Das ist der und der, und wegen dem gab es diese oder jene Vollzugsverschärfung.»
Eine WG von sechs Männern müsse aber auch harmonieren, fügt Jakober noch an. Er könne nicht einfach jeden da reinsetzen. «Es braucht eine hohe soziale Kompetenz in einer solchen WG, sonst funktioniert es nicht. Und ich will ja nicht, dass es nur funktioniert, ich will auch, dass die WG für die Leute sicher ist.» Zweimal habe er jemanden wieder rausnehmen müssen. Der eine habe sich an keine Regeln gehalten, der andere habe sich unmöglich benommen. Beide wurden in den Normalvollzug zurückversetzt.
Eine zentrale, grosse Institution für alle Deutschschweizer Verwahrten fände Jakober nicht überzeugend: «Es klingt vielleicht etwas komisch, aber eine Justizvollzugsanstalt wie unsere hat auch ein grosses Potenzial. Das darf man nicht unterschätzen. Es gibt ein grösseres Angebot an Freizeit- und Arbeitsmöglichkeiten. Wir haben eine Metallwerkstatt, eine Schreinerei, einen Fussballplatz und einen Mehrzweckraum, den wir für Sport, Theater oder Kinoabende verwenden können. Bei einer reinen Verwahrtenanstalt weiss ich nicht, ob man das hinbringen würde.» Die Leute hätten ausserdem die Möglichkeit, sich mit anderen Gefangenen auszutauschen, und seien nicht während vieler Jahre mit den immer gleichen Leuten zusammen.
Das Bundesgerichtsurteil
Im Juni hat das Bundesgericht das Urteil zu Kruckers Beschwerde veröffentlicht. Es befand, die aktuelle Unterbringung von Krucker widerspreche der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht. Die Vorinstanzen hätten es jedoch versäumt, genau hinzuschauen, ob die frühere Unterbringung im normalen Strafvollzug dagegen verstossen habe. Es wies die unteren Instanzen an, diesen Fehler auszubügeln. «Der Entscheid ist wegweisend», resümiert Stephan Bernard: «Das Bundesgericht schliesst nicht aus, dass der Verwahrungsvollzug, wie er sich bei Herrn Krucker während Jahren gestaltete, vor der EMRK nicht standhält – was auch bei Dutzenden anderen Verwahrten gelten würde. Es fordert den zuständigen Kanton auf, sich eingehend damit zu befassen. So weit ersichtlich, wird damit erstmals in der Schweiz grundsätzlich zu prüfen sein, ob der Verwahrungsvollzug ganz grundsätzlich menschenrechtskonform ist.» Damit hat Anwalt Bernard einen beachtlichen Etappensieg errungen. Der Fall wird nochmals von allen kantonalen Instanzen behandelt werden müssen. Das dürfte bis zu drei Jahre dauern. Für den Ausgang des Verfahrens gibt es zwei Optionen: Die Schweiz anerkennt, dass der bisherige Verwahrungsvollzug die EMRK verletzt, und bringt die Verwahrten künftig anders unter – oder aber sie tut es nicht. Dann wird Stephan Bernard den Fall nach Strassburg weiterziehen.
Frau Kruckers Hoffnung
Frau Krucker liest diesen Text vor der Publikation. Etwas fehle ihr, sagt sie: «Meine grosse Hoffnung ist, dass Toni einmal heimkommen und zwei, drei Stunden mit seinen Geschwistern und Neffen verbringen darf.» Es sei doch unmenschlich, jemanden so lange von seiner Familie getrennt zu halten. «Die Familie ist da für ihn, wir stehen alle voll hinter ihm.» Wenn er nicht einmal einen begleiteten Ausgang bewilligt erhalte, habe er auch nie die Möglichkeit, zu beweisen, dass er sich geändert habe und nicht rückfällig werde.
Bundesgerichtsentscheid: 6b_1291/2022
Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte: EGMR Nr. 19 359/04 (2009)
«Und ich will ja nicht, dass es nur funktioniert, ich will auch, dass die WG für die Leute sicher ist.»
Neue Abteilungen geplant
Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass Verwahrte nicht dem rigiden Strafregime unterworfen sein sollten, da sie ihre Strafe bereits verbüsst haben und nur noch präventiv eingesperrt sind. Die aktuellste Ausgabe von «#prison-info», einer Publikation des Bundesamts für Justiz, widmet sich nun explizit dem Thema Verwahrung und geht auf die «neuen Wege im Verwahrungsvollzug» ein, die die Kantone eingeschlagen haben. Das Haus C der JVA Solothurn wird darin als positives Beispiel erwähnt. Allerdings ist es zurzeit noch die einzige Abteilung in der Schweiz, die den verwahrten Gefangenen ein relativ normales Leben ermöglicht – und sie hat nur Platz für sechs Personen. Künftig sollen jedoch alle Verwahrten die Möglichkeit erhalten, «bei der Ausgestaltung ihres Vollzugsalltags mitwirken zu können», wie es in ««#prison-info» heisst.
Fukushima: Ein Jahr nach dem Super-GAU – Die Fahrt durch die Sperrzone
Nach der Reaktorkatastrophe vom 11. März 2011 wurden 70 000 Menschen aus dem Gebiet um das AKW Fukushima vertrieben. Als erstem Schweizer Medium ist es der «WOZ» gelungen, die Sperrzone von Fukushima zu besuchen, zu der JournalistInnen bislang keinen Zugang haben.
Erschienen am 16. Februar 2012
Von Susan Boos (Text und Fotos)
Wir fahren hinein, einfach so. Durch die Strassensperre mit den Bussen und den Polizisten. Vor uns die Welt ohne Alltag, die verseuchte Sperrzone von Fukushima. Übersetzer Tomoyuki Takada hat uns den Zugang verschafft. Ich will nicht genau wissen wie, und der Mann, der es möglich macht – unser Guide –, sitzt vorne am Steuer. Er erzählt während unserer Reise durch die Zone seine Geschichte, aber man darf sie nicht weitererzählen, sonst bekomme er Ärger. Nur so viel: Er arbeitet in der Zone, er besitzt einen gültigen Passierschein und entsprechende Arbeitskleidung, und er hat seine Motive, uns hereinzubringen, Motive, die nichts mit Geld zu tun haben, das würde zu den Leuten hier auch nicht passen. Den Polizisten, die den Eingang der Zone bewachen, reichte ein Blick auf den Passierschein, und sie liessen uns ziehen. Das Auto hat hinten abgedunkelte Scheiben, vermutlich haben sie uns kaum wahrgenommen.
«In the Shadow of Chernobyl»
So leicht kam man um 1990 herum nicht in die Sperrzone um den havarierten Reaktor von Tschernobyl. Soldaten bewachten mit scharf geladenen Waffen den Schlagbaum, der die Strasse in die Dreissig Kilometer-Sperrzone verbarrikadierte. Man fühlte sich wie im Krieg, wenn man am Checkpoint ankam, und hatte den Eindruck, in feindliches Territorium vorzudringen. Ohne offiziellen Passierschein kam man nicht rein, der Schein war aber mit einigem Aufwand, den richtigen Kontakten und dem nötigen Geld zu bekommen. Die Fahrzeuge, die in der sauberen Welt verkehrten, musste man beim Checkpoint stehen lassen, kein Auto sollte die Zone verlassen, um keine radioaktiven Partikel nach draussen zu verschleppen. Um das geborstene AKW und die gleich daneben liegende Stadt Pripjat hatten die Sowjets noch eine zweite, die Zehn Kilometer-Sperrzone errichtet. Da standen nochmals bewaffnete Soldaten, da brauchte man nochmals einen Passierschein, da wurden erneut die Fahrzeuge gewechselt. Anfang der neunziger Jahre galten diese Regeln noch, inzwischen ist aus der Destination Tschernobyl ein ordinäres Tourismusgeschäft geworden. Man erhält für hundert Dollar eine Führung, mit Stopp vor dem explodierten Block 4 und Mittagessen im Städtchen Tschernobyl, das dreissig Kilometer vom AKW entfernt liegt. Junge Leute toben übermütig durch Pripjat, stülpen sich vergnügt Gasmasken übers Gesicht und stellen das Computerspiel «In the Shadow of Chernobyl» nach. Gelangweilte Menschen holen sich in der Zone einen exklusiven Kick, sie wollen nicht wirklich wissen, was hier geschehen ist und wie viel Plutonium fein verteilt für ewig über der Stadt liegt.
Sie fürchten die Menschen nicht, aber sie haben aufgehört, mit ihnen zu leben.
Die Sperrzone von Fukushima hat ihre Metamorphose noch vor sich. Noch ist sie frisch in ihrem Schrecken. Aber es stehen hier keine grimmigen Soldaten mit Waffen im Anschlag, die Leute werden nicht scharf geprüft, kein Auto wird gewechselt. Die Sperrzone beginnt mit einer Sperre, die einer harmlosen Verkehrskontrolle gleicht. Das Tor zum Inferno stellt man sich martialischer vor.
Rechts zieht eine Tankstelle vorbei, links ein Einkaufszentrum mit einem riesigen leeren Parkplatz, noch eine Tankstelle, ein Möbelhaus mit Möbeln in den Schaufenstern, ein Autohaus mit Occasionswagen, an denen noch die Preisschilder kleben.
Es steigt ein Gefühl von Sonntagmorgen hoch, das Gefühl, durch friedlich schlafende Dörfer zu fahren, man braucht nur zu warten, dann tauchen die Menschen auf, und das Leben beginnt von neuem.
In der Hektik hatte ich am Morgen vergessen, das Strahlenmessgerät einzupacken, wir sind nun also unterwegs wie Blinde ohne Führhund und Stock.
Ein Militärlaster kommt uns entgegen, der Fahrer wie der Mann auf dem Beifahrersitz tragen weisse Schutzanzüge und Atemschutzmasken und sehen martialisch aus. Zum Glück sind sie da, sonst wäre man geneigt, die unsichtbare Gefahr, die draussen lauert, als Hirngespinst abzutun.
Unser Guide zeigt nach rechts, das sei die Einfahrt zum AKW Daini. Ein dichter Wald versperrt die Sicht, man sieht nur den Stummel eines weissen Abluftkamins hinter Tannenwipfeln vorbeigleiten.
Kein Durchkommen
Der Wegweiser zeigt an, dass es geradeaus nach Minami-Soma geht. Wir fahren in diese Richtung, die Küste hoch nach Fukushima Daiichi, wo das AKW mit den drei geborstenen Reaktoren steht. Ein prächtiger, kalter Tag begleitet uns. Die hohen Berge rund um die Stadt Fukushima trugen am Morgen weisse Spitzen, und der steife Wind roch nach Schnee. Jetzt ziehen dunkle Wolken von den Bergen gegen das Meer und wandern in einen klaren, türkisfarbenen Himmel hinein. Borstig wiegt sich verblühtes Unkraut auf verwilderten Feldern im Wind. Neben alten Holzgebäuden stehen noch die Gerippe von Gewächshäusern.
Der Guide erzählt von den wilden Viehherden und einer Kuh, die vor kurzem ein Auto angegriffen hat. Das Auto habe Feuer gefangen. «Da!», sagt er plötzlich und zeigt auf die Fahrbahn: «Da sieht man noch den Brandflecken auf dem Asphalt.» Dem Fahrer sei glücklicherweise nichts passiert.
Einige Kilometer später deutet unser Guide erneut nach rechts. «Daiichi», sagt er nur. Am Horizont sind einige Kamine und drei riesige, weiss-rote Kräne aufgetaucht.
Der Wald verdeckt wieder die Sicht. Der Guide sagt, er versuche, näher heranzufahren. Er biegt rechts in eine schmale Strasse ein, auf der man zu den Reaktoren fünf und sechs fahren kann. Doch dann geht es nicht weiter, das Erdbeben damals im März hat die Strasse aufgerissen, ein tiefer Spalt läuft quer durch die Fahrbahn, es ist unmöglich, durchzukommen. «Die haben die Strasse immer noch nicht repariert», stellt unser Guide verwundert fest.
Er wendet, fährt zurück, weiter der Küste entlang Richtung Minami Soma. An manchen Stellen ist die Strasse abgesackt und provisorisch ausgebessert. Das Meer taucht auf, dunkelblau und wunderschön. Ein Wegweiser kündet «Futaba Seaside Beach» an. Die Sonne scheint auf das blasse Schilf und taucht die Küste in ein goldenes Licht. Ein prächtiger Ort muss das gewesen sein.
Niemand zu finden
Vor einigen Tagen hatten wir Yoshihiko Monma getroffen, einen jungen Musiker, der genau aus dieser Gegend stammt und mit seiner Familie nicht weit vom Ufer gewohnt hat, nur sieben Kilometer vom AKW entfernt. Er selbst war am Tag des grossen Bebens nicht zu Hause. Er erzählt, wie seine gehbehinderte Grossmutter allein daheim war und beschlossen hatte, nicht vor dem Tsunami zu fliehen.
Ihr Schwiegersohn hörte davon, eilte herbei und rettete sie. Als er kam, habe sie ruhig gestrickt und verwundert gefragt, was er hier tue, sie habe abgeschlossen mit dem Leben und warte jetzt. Er nahm sie mit. Heute lebt Monma mit ihr in einer kleinen Wohnung in Fukushima.
Nur zweimal sei er zurückgekehrt. Ihr Haus sei weg, alles fortgetragen von der grossen Welle. Bei seinem ersten Besuch sei er einen Tag lang in der Gegend herumgeirrt und habe nach Leuten gesucht. Er habe gerufen und geschrien, aber niemanden gefunden, sagt er und versucht, seine Tränen zu unterdrücken.
Ihn treibt um, was viele beschäftigt, die aus der Sperrzone fliehen mussten: Das Erdbeben hat Leute verschüttet, die noch lebten, der Tsunami hat Menschen mitgerissen, die man hätte bergen können – wenn man hätte suchen dürfen, wenn man hätte helfen können. Das ging aber nicht. Und deswegen sind wegen des AKW-Unfalls Menschen gestorben, die nicht hätten sterben müssen.
Am Ufer steht noch ein einziges Haus. Rundherum deuten nur noch Betonfundamente darauf hin, dass hier einmal eine Siedlung stand. Ein weisser Reiher stakt im Brackwasser umher. Unser Guide zeigt auf eine hohe, einsame Fichte. So hoch wie die Baumspitze sei die Welle gekommen und habe ganze Küstenwälder abrasiert.
Die Sonne scheint in die schwarzen Wolken, das gelbe Schilf leuchtet. Dahinter öffnet sich ein breites Trümmerfeld mit den Überresten von Häusern. Da steht noch ein halbes Bad, hier eine Treppe, dort ein zerquetschtes Auto. Die Schiffe sind an Orten, wo sie nicht hingehören. Im Süden, am Ende eines langen, weissen Sandstrands, recken sich die Kräne und Kamine von Fukushima Daiichi in die Höhe. Mehr ist nicht zu sehen. Die Anlage ist keine zehn Kilometer entfernt, aber es ist vermutlich ein Leichtes gewesen, sie zu ignorieren, wenn man hier gewohnt hat.
Wir wandern durch Trümmer, sammeln Muscheln, kleine Wellen tänzeln leise auf dem Meer, Möwen ziehen ihre Kreise, die Welt ist still.
Unser Guide drängt zur Weiterfahrt. Er fürchte sich ein bisschen vor der Polizei, die hier rege patrouilliert. Er weiss nicht, was passieren würde, wenn sie uns erwischten, aber unangenehm wäre es sicher, vor allem für ihn.
Wir fahren zurück, an Haufen von zusammengeräumtem Schutt vorbei. An einer Wegkreuzung haben Leute einen kleinen Schrein errichtet. Einige Buddhas wachen über die Toten, die nie gefunden werden konnten, daneben stehen Getränke, frische Blumen und einige Kerzen.
Die Sonne verschwindet bald hinter den Bergen und wirft ein atemberaubendes Licht auf diesen unglücklichen Fleck.
Aggressive Kühe in der Dämmerung
Auf der Höhe von Fukushima Daiichi sagt der Guide, hier würden etwa 80 Mikrosievert pro Stunde gemessen. Aufs Jahr gerechnet gäbe das über 700 Millisievert, der Grenzwert liegt für AKW-Mitarbeiter bei 20. Es sei also nicht ratsam, hier lange zu verharren. Dann biegt er nach links ab, nimmt die Einfahrt zum Tor von Daiichi. Wir fahren durch eine Siedlung, in den Gärten hängen die Bäume voller oranger Kakis. Wir haben unseren Guide nicht gebeten, so nahe an die Anlage heranzufahren, aber es scheint ihn zu drängen, uns dem schaurigen Ort so nahe wie möglich zu bringen.
Kurz vor dem Haupttor biegt er wieder nach links ab, fährt den Zaun entlang und hält vor einem Nebentor. Dahinter, nur wenige Hundert Meter entfernt, stehen die havarierten Reaktoren. Man sieht nicht viel, einige Kräne auf der anderen Seite des Zauns, auf unserer Seite Lastwagen, Container, ein Parkplatz. Ein Ort, den man für gewöhnlich nicht beachten würde. Dass er so gefährlich ist, kann man weder sehen noch spüren, man muss es wissen und vor allem glauben.
Unser Guide wendet und fährt zurück Richtung Zonengrenze. Die Sonne ist verschwunden, die Gegend scheint nun grau und ungastlich. Es beginnt zu dämmern, da müsse man besonders vorsichtig sein, in dieser Phase seien die Kühe am aggressivsten. Kaum hat der Guide es gesagt, tauchen sie auf. Rechts zwischen den Häusern und Gärten, vielleicht zehn Stück. Schwarze Kühe, jede von ihnen hat ein Kalb an der Seite. Die Kleinen sind vielleicht vier, fünf Monate alt. Sie stehen gebannt da. Der Fahrer hält an, wir öffnen die Fenster.
Die Kühe starren uns vorsichtig wartend an, bereit, auf uns loszugehen, falls wir es wagen, näher zu kommen. Dann wendet die Leitkuh, die Truppe zieht sich in die Gärten zurück, die nun ihnen gehören. Wir sehen noch mehrere kleine Herden und einzeln weidende Tiere. Sie verhalten sich scheu wie Wildtiere, die sich erst bei Dämmerung auf die offenen Flächen wagen. Sie fürchten die Menschen nicht, aber sie haben aufgehört, mit ihnen zu leben.
Der Guide sagt, es sei beschlossene Sache, die Kühe demnächst alle abzuschiessen. Sie seien zu gefährlich.
Haustiere und Vieh blieben
alleine zurück
Der Hof von Katuyoshi Sato befindet sich in Namie, mitten in der Zwanzig-Kilometer- Sperrzone. Wir treffen Sato und seine Frau zusammen mit Tadanori Tadano in einem lärmigen Fast-Food-Restaurant im Bahnhof von Koriyama. Neben dem grossen Sato wirkt Tadano schmächtig. Tadano steht einer der drei Milchbauernvereinigungen vor, die es in der Präfektur Fukushima gibt. In dieser Vereinigung sind die BäuerInnen aus der Umgebung des havarierten AKWs organisiert. Tadanos Hof liegt in der Gemeinde Minami- Soma, gleich ausserhalb der Sperrzone. In dieser Region dürfte man schon wieder Landwirtschaft betreiben, doch ging über Tadanos Land so viel strahlendes Material nieder, dass sein Hof zur «Sonderevakuierungsstelle» erklärt wurde.
Er sagt, Fukushima sei die drittgrösste Präfektur Japans, bezüglich Milchproduktion liege sie landesweit auf Platz acht und liefere zudem viel Reis und Obst. Umgerechnet zirka drei Milliarden Euro bringe die Landwirtschaft der Präfektur jedes Jahr ein, ein Viertel stamme aus der Fleisch- und Milchproduktion.
Tadano leitet auch die Milchverarbeitungsfirma, die den Bauern der Vereinigung gehört. Einen grossen Teil der Milch würden sie nach Tokio liefern, sagt er. Seit dem Atomunfall sei dort der Absatz stark eingebrochen. Die Laster müssten oft halb leer fahren. Ausserdem seien 10 000 Kinder aus der Präfektur weggezogen, die bislang in der Schule täglich eine Flasche Milch erhalten hatten, auch das spürten sie. Wie hoch die Einbussen konkret sind, will Tadano nicht sagen.
Durch die Sperrzonen hat die Milchverarbeitungsfirma zwanzig Prozent ihrer Produktion verloren. Im gesamten evakuierten Gebiet gab es 48 Milchbauern, allein in der Zwanzig- Kilometer-Sperrzone waren es 26, die zusammen gegen tausend Kühe hielten. Die Familie Sato gehört zu ihnen. Was sie durchzumachen hat, wünscht man niemandem. Auf dem Hof lebten drei Generationen, Sato, seine Frau, der Sohn mit Schwiegertochter und deren Kinder. In der Nacht nach dem grossen Erdbeben schliefen sie alle in ihren Autos, wegen des Stromausfalls und wegen der Nachbeben.
Am nächsten Tag hörten sie von den Problemen im Atomkraftwerk. Die Grossfamilie beschloss, sich in Minami-Soma in Sicherheit zu bringen, bloss Katuyoshi Sato blieb bei seinen drei Dutzend Tieren. Bis zum 15. März molk er die Kühe und schüttete die Milch weg. An diesem Tag hörte er im Radio, das AKW werde wirklich gefährlich. Da beschloss auch er zu gehen. Am Abend kam er in einer Notunterkunft von Minami Soma wieder mit seiner Familie zusammen.
«Als ich wegging, hatte ich keine Ahnung, wie lange das dauern würde», sagt Sato.
«Was taten Sie mit den Tieren?»
«Ich liess sie im Stall, angebunden.»
«Warum?»
«Wir haben uns dafür entschieden, weil wir wussten, dass es gefährlich werden könnte, wenn man sie einfach freilässt. In unserer Umgebung waren wir einige Milchbauern. Wir haben alle unsere Kühe angebunden zurückgelassen. Daneben hatte noch ein Fleischproduzent dreihundert Masttiere. Er liess die Hälfte der Rinder frei. Sie sind inzwischen verwildert, haben sich zu Herden von etwa zwanzig Tieren zusammengeschlossen, richten Schäden an und sind wirklich gefährlich. Erst vor kurzem kollidierte ein Mann, der zum AKW Daini zur Arbeit fuhr, mit einer Kuh. Sein Auto wurde ziemlich beschädigt.»
«Was ist mit Ihren Kühen passiert?»
Sato zögert: «Ich bin erst am 26. März zurückgekehrt,
vorher durfte man nicht.»
«Und was war mit den Kühen?»
«Die Hälfte war bereits tot, verhungert …,
die andern …», er streicht mit der Hand über die Wangen zum Kinn, um zu zeigen, wie sie aussahen, «… ganz abgemagert.»
«Was haben Sie getan?»
«Nichts!», sagt er knapp. «Ich konnte nichts tun. Ich hatte nicht die Möglichkeit, sie zu töten.»
«Stimmt es, dass Schweine zum Teil die toten Kühe gefressen haben?»
Er nickt: «Tierschützer sind um den 20. März in die Zone gefahren, sie haben versucht, 21 Kühe und Schweine freizulassen. Die Schweine haben dann zum Teil die Kühe gefressen … Kabinettssekretär Yukio Edano hat erst am 20. Mai im Parlament gesagt, jetzt werde man alle Tiere töten, die noch in der Zwanzig-Kilometer- Sperrzone sind …, erst am 20. Mai.»
«Und die Hunde und Katzen?»
«Die blieben auch zurück, die Leute konnten sie ja nicht in die Notunterkünfte mitnehmen.»
«Hatten Sie Hunde oder Katzen?» Sato schüttelt verneinend den Kopf.
«Ich habe ihn überredet, die Kühe nicht loszulassen. Drei Tage lang habe ich auf ihn eingeredet. Es war aber richtig.»
Nach Schätzungen von Tierschutzorganisationen blieben bis zu 6000 Hunde in den Sperrzonen zurück. Viele verhungerten und verdursteten, weil sie angebunden waren. Andere liefen herum, bildeten Rudel, zum Teil wurden sie eingefangen und in Tierheimen untergebracht.
Tadano und Sato sagen, sie hofften, dass sie zurückkönnen. Die Regierung habe bekannt gegeben, die Sperrzone solle bis 2013 aufgehoben werden. Man müsse unbedingt alles dekontaminieren, sonst seien alle Bauern um ihre Existenz gebracht.
Tepco, die Betreiberfirma des AKWs, hat zugesichert, pro verlorener Kuh eine Entschädigung von umgerechnet 9000 Euro zu zahlen. Ein anständiger Preis, kostet doch eine gute Kuh laut Sato um die 6000 Euro. Mit diesem Geld liesse sich neu beginnen.
«Wenn aber bis 2013 keine klare Entscheidung gefällt wird, ob wir wirklich zurückkönnen, werden wir aufgeben», fügt Sato zögernd an. Er sei jetzt 63, sein Sohn hätte den Hof gerne übernommen. «2013 wäre ich 65 und könnte helfen, den Hof aufzubauen. Das braucht bestimmt zwei Jahre. Wenn es aber länger dauert, bis wir zurückkönnen, kann ich nicht mehr helfen, dann geht das nicht mehr.» Sein Sohn lebt inzwischen in einer anderen Präfektur und hat einen temporären Job angenommen. Die Satos leben in einer kleinen Wohnung in der Stadt Nihonmatsu, zwischen Fukushima und Koriyama. Sie sind schon ein-, zweimal für wenige Stunden zu ihrem Hof gefahren, es dauere aber eine Woche, bis sie die Bewilligung bekämen. Und es zieht sie nichts mehr dorthin: «Im Haus messen wir zwei Mikrosievert pro Stunde. Alles ist kontaminiert, da wollen wir auch nichts mitnehmen.»
Der Staat habe versprochen, bald die toten Kühe aus dem Stall wegzuräumen, sagt Sato. Und dann beginnt er nochmals von den Tieren zu reden, wie schlimm es war, zurückzukommen und die verhungernden Kühe zu sehen. Tränen stehen ihm in den Augen. Es ist der einzige Moment, in dem sich seine Frau ins Gespräch mischt. «Ich habe ihn überredet, die Kühe nicht loszulassen. Drei Tage lang habe ich auf ihn eingeredet. Es war aber richtig», sagt sie bestimmt, aber traurig.
Ihr Mann nickt und lächelt.
Dann fügt er leise hinzu, er finde auch ganz schlimm, dass sie diese absolute Sicherheit propagiert hätten: «Als es dann passierte, gab es keinen Notfallplan, die Bevölkerung wurde nicht vor der Strahlung geschützt, es gab keine Evakuierungspläne, keinen Plan für die Dekontaminierung. Neun Monate nach dem Unfall haben sie noch immer keine Ahnung, wie man mit den geschmolzenen Reaktoren umgehen soll. Sie wissen nicht mehr als im März.» Zehn Tage vor dem Unfall habe es noch eine grosse Katastrophenübung gegeben. Auf allen Ebenen, bis hinauf zum Premierminister, habe man geprobt, was bei einem AKW Unfall zu tun wäre. «Was hat es gebracht? Nichts, gar nichts», sagt Sato.
Fukushima lässt grüssen
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Susan Boos, das Anfang März unter dem Titel «Fukushima lässt grüssen. Die Folgen eines Super GAUs» im Rotpunktverlag erscheinen wird. Boos hat in Japan die von der AKW-Katastrophe betroffenen Gebiete besucht und viele Gespräche geführt. Zudem geht Boos der Frage nach, wie die Schweiz oder Deutschland gerüstet wären, wenn es zu einer atomaren Grosskatastrophe käme. Das Buch kam dank finanzieller Unterstützung von Greenpeace, PSR/IPPNW Schweiz, der SES, GAK/EnergieExpress und ProWOZ zustande.
Tschernobyl:
20 Jahre Schweigen
Der Fotograf Igor Kostin behauptet, als Erster
den explodierten Reaktor fotografiert zu haben. Dieses Heldenepos verkauft sich, ist aber nicht wahr. Auch andere bizarre Geschichten umranken die Atomkatastrophe.
Erschienen am 27. April 2006
Von Susan Boos
Tschernobyl macht einen verrückt. Es ist nichts, wie es scheint. Die Sonne steht rot im Westen, an den Bäumen schimmern grün die ersten Blätter. Ein Elch geht über die Strasse. Vom Aussichtsturm sieht man in der Ferne einige grosse Gebäude und drei verlorene Lichter – das Atomkraftwerk Tschernobyl und die Geisterstadt Pripjat, in der einst über fünfzigtausend Menschen lebten, bevor sie vor zwanzig Jahren Hals über Kopf evakuiert wurden. Es dämmert, und man weiss, es gibt keinen friedlichen Platz auf Erden, der tödlicher ist.
Der Ort nennt sich Sapavednik, Naturschutzpark. Es ist das einzige Naturreservat, das errichtet wurde, um die Menschen vor der Natur zu schützen – die Tschernobyl-Schutzzone im Südosten Weissrusslands. Hier liegt eine beachtliche Menge Plutonium-241, das binnen weniger Jahre zu Americium-241 zerfallen wird, ein Radionuklid, das noch aggressiver und gefährlicher als Plutonium ist. Die Fische in den Seen sollte man nicht fangen, und wenn man es tut, muss man sie als radioaktiven Müll entsorgen, sagt der Direktor des Parks. Er ist Wissenschaftler, versucht die Folgen des radioaktiven Niederschlags im Naturpark zu ergründen und versteht nicht, weshalb keine westlichen WissenschaftlerInnen hier arbeiten wollen.
Das falsche erste Bild
Hier kann man Dinge erforschen, sagt er, die es sonst nirgends gibt. Die Strahlung ist wie ein Tier, ein unsichtbares Monster, das sich wendet und wandelt. Man weiss nie, was es als Nächstes tut mit den Tieren und Pflanzen. Ob es abhaut, sich in die Erde verkriecht oder noch hinterhältiger wird. Das Einzige, das man weiss: Es gebärdet sich jedes Jahr ein bisschen anders und tut Dinge, die man nicht erwartet hat. Tausende von Jahren wird das Monster hier verweilen. Aber ausser den WeissrussInnen ist keiner da, der es untersuchen will.
Tschernobyl ist ein Mosaik bizarrer Geschichten. Wie zum Beispiel die Geschichte von Igor Kostin. Er ist ein begnadeter Fotograf und Erzähler. Vor wenigen Wochen publizierte er auf Französisch und Deutsch den Fotoband «Tschernobyl Nahaufnahmen». Ein atemberaubendes Buch. Das erste Bild zeigt ein Gebäude, dessen Innerstes nach aussen gekehrt ist. Ein Schutthaufen auf einem grobkörnigen, fahlen Farbfoto: der geborstene Tschernobyl- Reaktor – angeblich am ersten Tag, dem 26. April 1986, aus einem Helikopter aufgenommen. Kostin schildert, wie ihn an jenem Tag frühmorgens ein befreundeter Helikopterpilot anrief und sagte: «Igor, im Kernkraftwerk hat es heute Nacht gebrannt. Wir fliegen hin. Kommst du mit?» Er geht mit. In Tschernobyl fliegen sie über den Reaktor: «Auf dem Grund der Ruinen erkennt man nur schwach den rötlichen Schein des schmelzenden Reaktorkerns. (…) Ich öffne das Seitenfenster. Ein Schwall heisser Luft dringt in die Kabine. Ich kann kaum schlucken», schreibt Kostin.
«Es dämmert, und man weiss, es gibt keinen friedlichen Platz auf Erden, der tödlicher ist.»
Zurück in Kiew entwickelt Kostin die Bilder: «Fast alle Bilder sind vollständig schwarz. In diesem Moment begreife ich noch nicht, dass das auf die Radioaktivität zurückzuführen ist.» Nur ein einziges Bild habe diesen Tag überstanden – das besagte erste Bild im Buch. In der Legende steht: «Das ist das einzige existierende Foto vom Tag des Unfalls selbst.»
Der unbekannte Held
Die Schweizer Zeitungen berichten bewundernd über Kostin, «der sich» – so der «Tages- Anzeiger» – «wie durch ein Wunder keine bleibenden körperlichen Schäden zugezogen hat». Die NZZ begleitete den Siebzigjährigen in die Zone. Er trägt einen Kaschmirmantel und gibt sich Mühe, wie ein Künstler auszusehen, erzählt der Journalistin erneut vom ersten Tag und sagt: «Die Wahrheit, die Wahrheit ist immer arrangiert. Glaub nur nicht, dass es bei dir im Westen anders ist.»
Wie wahr: Kostin war nicht der Held, der das erste Bild des explodierten Reaktors schoss. Das war Anatoli Rasskasow. Kostin kam erst später in die Zone.
Rasskasow war der Werkfotograf von Tschernobyl und wohnte seit 1973 in Pripjat. Heute lebt er mit seiner Ehefrau Galina in der Ukraine, am Rand von Kiew, in einer kleinen Einzimmerwohnung. Sie besitzen nicht viel, genau gesagt, sind sie arm. «Wir haben eine neue, demokratische Regierung – aber heute müssen wir die Medikamente selber bezahlen, wenn wir ins Spital gehen. Früher war das bezahlt», sagt er und lacht. Dieser behäbige, gemütliche Mann ist schwer krank.
Er war ein überzeugter Sowjetmensch, er liebte sein AKW, seine Arbeit und tat, was man ihm sagte. An jenem 26. April befahl man ihm am Morgen, möglichst nahe ans zerstörte Gebäude heranzugehen und zu fotografieren. Er sah, da war etwas passiert, doch was genau, wusste er nicht und auch sonst keiner, der an jenem Morgen vor dem AKW stand. Er ging ums AKW herum, zusammen mit einem Dosimetristen. Er fotografierte die Trümmer, die auf dem Boden lagen. Was er fotografierte, wusste er nicht. Etwa um zwei Uhr nachmittags schickten sie Rasskasow – zusammen mit zwei Offizieren und zwei Zivilisten – mit einem Helikopter auf einen Flug über den Reaktor. Sie mussten fliegen, weil der Notfallstab wissen wollte, was da war. Denn wenn das Unvorstellbare passiert, braucht es seine Zeit, bis man begreift, dass es wirklich passiert ist. Und wenn man es endlich glaubt, kennt man das Ausmass der Zerstörung noch lange nicht. Von unten sah man nur die Wand des geborstenen Reaktors. Die Leitungen, die lose herunterhingen, die Trümmer und den Rauch. Der Notfallstab brauchte auch Fotos, um nach Moskau rapportieren zu können.
Rasskasow erzählt, wie sie im Helikopter sassen und er durch die Fenster keine guten Bilder machen konnte. Er schlug vor, das Fenster zu öffnen, der Helipilot wie die Offiziere hätten opponiert. Einer der Zivilisten aber sagte: «Warum fliegen wir, wenn wir nichts sehen – öffnet das Fenster!» Rasskasow beugte sich hinaus. Ein Militär hielt ihn an den Beinen, während er fotografierte. Es war unglaublich, sagt Rasskasow heute: «Der Reaktor strahlte wie ein grosser, heller Spot. So etwas hat ausser uns noch nie jemand auf der Welt gesehen.» Es klingt ehrfürchtig, wie er das sagt.
Rasskasow entwickelte seine Bilder in seinem Labor. Von mehreren Filmen waren tatsächlich die meisten schwarz. «Mir wurde heiss und kalt», sagt Rasskasow, «ich fürchtete schon, meinen Auftrag nicht richtig erfüllt zu haben.» Die Strahlung hatte die Bilder allerdings nicht während des Fluges zerstört, sondern als er am Boden Trümmer fotografierte. Die Trümmer waren hochradioaktive Grafitbrocken, die aus dem Reaktor katapultiert worden waren. Acht seiner Fotos waren schliesslich brauchbar. Er übergab sie – inklusive Negative – den MitarbeiterInnen des Notfallstabes. Als diese die Bilder sahen, hätten sie beschlossen, Pripjat zu evakuieren. Das war am späten Nachmittag des 26. April. Es war nicht sowjetischer Zynismus, dass man die Stadt erst nach 48 Stunden räumte, es war nackte Überforderung.
Rasskasows Fotos waren fast zwanzig Jahre lang verschwunden. Vor wenigen Wochen erhielt er von einem Tschernobyl-Kadermann, der am 26. April mit ihm zeitweilig unterwegs war, die Abzüge von zwei Bildern. Wo die anderen sind, weiss Rasskasow nicht. Eines seiner Bilder wurde Anfang Mai 1986 im sowjetischen Fernsehen gezeigt. Auf diesem Bild ist nicht zu sehen, dass der Reaktor heftig raucht; ein Teil der Trümmer und herunterhängende Kabel waren wegretouchiert, damit es nicht ganz so schrecklich aussah. Dieses Bild machte Geschichte (vgl. Foto auf Seite 26). Das zweite Bild ist aus dem Helikopter aufgenommen, deutlich sieht man, wie der Reaktor raucht. Es ist noch ein drittes Bild von Rasskasow im Umlauf. Er selbst besitzt jedoch keinen brauchbaren Abzug, sondern nur eine schlechte Kopie davon. Rasskasow weiss nicht, wer den richtigen Abzug besitzt. Es ist direkt über dem Reaktor aufgenommen und sieht aus, als ob ein gigantischer Scheinwerfer aus dem zerstörten Gebäude strahlen würde.
Kaum jemand weiss, dass Rasskasow diese unglaublichen Bilder aufgenommen hat. Als Werkfotograf unterstand er strikter Geheimhaltungspflicht. Er hat geschwiegen und an den historischen Fotos noch keine Kopeke verdient. Anfang Jahr schickte er der «Chernobyl Post», dem Organ einer Tschernobyl- Hilfsorganisation, einen Brief und erzählte seine Geschichte, weil es ihn wurmte, dass andere für etwas berühmt wurden, was er getan hatte.
Als Rasskasow Kostins Buch mit dem angeblich «ersten» Bild sieht, schmunzelt er: «Das ist viel später aufgenommen worden – man sieht deutlich: Da raucht nichts mehr.» Er sagt, an jenem Tag habe ein grosses Chaos geherrscht. Doch die Strassen um Pripjat seien alle abgesperrt gewesen. Niemand kam einfach so rein. Und niemand durfte aus der Zone raus, selbst höchste Kader nicht, die ihre Familien wegbringen wollten. Seine Version klingt glaubwürdig. Die AKWLeute brauchten Fotos, aber nie hätten sie in dieser Situation einen Pressemann frei fotografieren lassen.
Rasskasows Bilder werden bald im Tschernobyl- Museum, das von Feuerwehrleuten unterhalten wird, in Kiew zu sehen sein. Er s agt, die Leute vom Museum würden nicht alle seine Bilder mögen, und kramt ein Schwarzweissfoto hervor, eine spätere Luftaufnahme vom geborstenen Reaktor mit dem Maschinenhaus. Er zeigt auf das Maschinenhaus. «Da sieht man Löcher im Dach», sagt er, «die entstanden, als bei der Explosion Trümmer aufs Dach fielen. Aber man sieht auch deutlich, dass es nicht gebrannt hat. Es gibt keine Brandspuren.»
Rasskasow sagt, dass es gar kein gewöhnliches Feuer gab, nur der Reaktor habe gebrannt – ein unlöschbares Feuer. Die Chefs der Feuerwehr mögen diese Version der Geschichte nicht. Sie hatten in jener Nacht, als die Katastrophe geschah, mehrere Feuerwehrleute losgeschickt, um das Feuer zu löschen. Diese Männer starben binnen weniger Tage oder Wochen an akuter Strahlenkrankheit. Ein grausamer Tod. Rasskasow sagt: «Wenn es stimmt, was ich sage, sind die Feuerleute umsonst gestorben. Es gab gar kein Feuer, das sie hätten löschen können.» Rasskasow könnte Recht haben, nur wenige waren an jenem Tag so nahe am Reaktor dran wie er. Wie es wirklich war, wird man in diesem Dschungel von Geschichten und Tragödien nie erfahren.
Was geschah wirklich?
Man wird vermutlich auch nie erfahren, ob Mikola Karpan Recht hat. Er ist Physiker und war ein wichtiger Mann in Tschernobyl. Er schrieb die Handbücher für die Reaktoren und prüfte jedes Jahr das Fachwissen der Operateure. Er kannte den Reaktor besser als die meisten, die dort arbeiteten. Zwanzig Jahre lang hat er geschwiegen. Vor kurzem publizierte Karpan ein dickes Buch über die Atomindustrie, die Probleme des Tschernobyl-Reaktors und seine Version des Unfalls. Sein Job war es, für die nukleare Sicherheit zu sorgen, er sollte eigentlich wissen, was damals wirklich los war. Er sagt, man hätte schon länger gewusst, dass dieser Reaktortyp sehr gefährlich sei. Verschiedene hochkarätige Wissenschaftler hätten gefordert, diese Reaktoren müssten abgeschaltet und sicherer gemacht werden. Das Politbüro habe aber angeordnet, die Reaktoren weiterlaufen zu lassen und gleichzeitig das Sicherheitssystem zu verbessern.
Karpan holt einen grossen Bogen Millimeterpapier hervor. Darauf sind verschiedene Kurven eingezeichnet. Es ist eine Grafik, die die letzten Stunden, Minuten und Sekunden des Reaktors abbildet. Karpan erklärt im Detail, was in jener Nacht passiert war, erläutert die Besonderheiten dieses Reaktors und die Geschichte mit dem Experiment. Dieses hätte am April abgeschlossen sein sollen. Dann kam etwas dazwischen, es wurde um einige Stunden verschoben. Karpan war an jenem Tag nicht im Werk. Später fand er heraus, dass der Chefoperateur um Mitternacht – beim Schichtwechsel – dem verantwortlichen Physiker von der Sicher- heitsabteilung mitteilte, er müsse nicht zur Arbeit kommen, das Experiment sei erfolgreich abgeschlossen. Was nicht stimmte. Sie begannen erst nach Mitternacht mit dem Experiment, obwohl der Reaktor in einer nukleartechnisch labilen Situation war. Vielleicht wollten es die Operateure nicht wissen oder realisierten es nicht.
Das ist es, was einen verrückt macht an Tschernobyl: Man weiss nichts präzise – man ahnt nur Böses.
Karpan sagt, wenn einer seiner Physiker da gewesen wäre, hätten sie nie zugelassen, dass man das Experiment trotzdem machte. Man machte es trotzdem. Was dann passierte, sieht auf dem Papier wie eine plötzlich scharf ansteigende Kurve aus, die noch einmal kurz abfällt und dann über die Grafik hinausschiesst. So schlicht lässt sich der grösste anzunehmende Unfall (GAU) auf dem Papier darstellen.
Karpan sagt: «Im Reaktor ist nichts mehr. Alles ist weg. Nach offizieller Version wurde nur ein minimer Teil des Reaktorkerns freigesetzt, aber das stimmt nicht.» Nach Karpans Einschätzung gelangten neunzig Prozent des spaltbaren Materials in die Umwelt, zehn Prozent liegen geschmolzen unter dem Reaktor.
Vielleicht hat Karpan Recht. Wenn er Recht hat, sähen plötzlich die Opferzahlen ganz anders aus. Denn die Opfer werden theoretisch hochgerechnet: Je mehr Radioaktivität freigesetzt wird, desto mehr Krebstote wird es geben.
Das ist es, was einen verrückt macht an Tschernobyl: Man weiss nichts präzise – man ahnt nur Böses. Diejenigen, die die Mittel und die Pflicht hätten, Klarheit zu schaffen – wie die Funktionäre der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) –, tun alles, um nichts Präzises zu erfahren. Nach Meinung der IAEO sind bis heute nur 50 Menschen an den Folgen des GAUs gestorben, 4000 weitere Krebstote dürfte es noch geben. Absurde Zahlen, die nahe legen sollen, dass selbst ein GAU ein unangenehmes, aber handhabbares Unglück ist.
Wölfe jagen
Derweil Sein und Schein sich weiter sonderbar vermischen. In der weissrussischen Schutzzone gedeihen wieder Pflanzen, die man dort früher ausgerottet hatte. Seltene Vögel kehren zurück. Die Biber breiten sich aus und bauen Dämme. Das Land wird wegen der Dämme überflutet, die Radionuklide schwimmen weg und verseuchen Ackerböden. Die Wölfe vermehren sich unflätig stark. Fremde dürfen im Winter für vierhundert Dollar die Stunde einen Helikopter mieten und aus der Luft Wölfe jagen. Das ist Tschernobyl heute – eine bösartige Groteske.
Anatoli Rasskasow
Der Werkfotograf von Tschernobyl musste sowohl die Fortschritte beim Bau des AKWs wie auch die Unfälle auf den Baustellen und später in den Anlagen dokumentieren. Am April 1986 wurde er geholt, als man unbedingt Fotos vom explodierten Reaktorblock brauchte. Ausser ihm habe an jenem Tag niemand Fotos gemacht, sagt Rasskasow. Nach dem Unfall arbeitete er als Dosimetrist in der Sperrzone und dokumentierte den Bau der Reaktorschutzhülle.