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Quentin Schlapbach & Cedric Fröhlich

Zürcher Journalistenpreis

Berner Zeitung BZ MitarbeiterIn Portrait
Cedric_Froehlich

Cedric Fröhlich, 1989 geboren, arbeitet als Reporter für die «Berner Zeitung» und «Der Bund». Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern, war Spitzensportler und Mitbegründer einer Studierendenzeitung. Nach dem Masterabschluss folgten Anstellungen bei der «BZ» und die Diplomausbildung an der Schweizer Journalistenschule MAZ. Seit 2021 schreibt er für die Redaktion der Berner Tamedia-Titel über Justiz, Politik und Gesellschaft.

Quentin Schlapbach, 35, ist in Langenthal aufgewachsen. Nach der obligatorischen Schulzeit machte er eine KV-Lehre und hatte danach verschiedene Jobs, unter anderem im Immobilienbereich und im Finanzwesen. Während der Berufsmaturitätsschule sammelte er als freier Mitarbeiter des «Langenthaler Tagblatts» erste Erfahrungen im Journalismus. 2016 folgte das Volontariat bei der «Berner Zeitung» mit berufsbegleitendem Studium an der Schweizer Journalistenschule MAZ. Heute schreibt er als investigativer Reporter für die «Berner Zeitung» und «Der Bund».

laudatio

von Reza Rafi

Es ist mir eine grosse Freude, zwei junge Kollegen zu würdigen. Den einen, Cedric Fröhlich, durfte ich noch nicht persönlich kennenlernen, den anderen, Quentin Schlapbach, hasse ich. Das war jetzt nicht ernst gemeint, aber Sie müssen verstehen: Ich wollte Quentin mal einstellen, und auf der Zielgeraden, in letzter Sekunde, sprang er mir wieder ab. Immerhin konnte ich damit die Lohnsumme bei der Konkurrenz etwas vergrössern.

Im Juli 2023 publizierten die beiden einen Zweiteiler in der «Berner Zeitung» mit dem Namen «Tod in Adelboden». Das könnte der Titel eines Konsalik-Romans oder eines Samstagabendkrimis sein, ist aber mindestens so unterhaltsam, geistreich und anregend, und mit Sicherheit auch relevanter. Denn Cedric und Quentin haben etwas vom Grundlegendsten, ich würde sogar sagen: vom Natürlichsten getan, was gute Journalisten tun: Sie sehen eine gute Geschichte und erzählen sie. Es geht um den Tod des autistisch veranlagten Martin M. durch Schüsse der Spezialeinheit Enzian im Jahr 2020. Bei der Lektüre öffnet sich hinter dieser dürren Meldung ein Drama. Dieses besteht aus der Flucht des Martin M. von der Zürcher Agglomeration ins Berner Oberland, vom Ballungszentrum in die Peripherie, bis in den Tod.

Im Beitrag von Cedric und Quentin steckt keine künstliche Intelligenz drin, keine AI, keine schreibenden Roboter, sondern ureigener organischer Journalismus. Auf Einvernahmeprotokollen gestützt und erzählt mit einer eleganten Schreibe. Ich zitiere: «M. – 44, dunkles Haar, ein kleiner, unscheinbarer Mann – befindet sich im Krieg gegen einen Feind, der in Wasserleitungen gurgelt und mit Rasenmähern röhrt, der bimmelt und blökt, knallt und lacht. Gegen einen Feind, der durch jede noch so dicke Mauer und in jedes Schlafzimmer findet. Gegen den Lärm.»

Womit wir bei einer weiteren Ebene sind: beim Prozess des psychischen Verfalls eines Menschen, in diesem Fall M.s Leidensweg von der Asperger-Diagnose zum IV-Fall, zu Suiziddrohungen und Polizeieinsätzen. Unweigerlich dem Ende entgegen.

Geschildert wird der Prozess einer Entfremdung von der Welt in Zeiten der algorithmisierten Spassgesellschaft. Schliesslich gelangt der Leser zu der Frage: Durfte der Staat Martin M. töten? Und wenn nein, wie reagiert er? Zitat Fröhlich/Schlapbach: «Tötet ein Mensch einen anderen, so antwortet die Justiz in der Regel wuchtig, scheut sie weder Zeit noch Aufwand. Im Fall von Martin M. aber ist so vieles anders.»

Die Autoren legen bei den Hütern des Gewaltmonopols eine erschreckend dreiste Stümperhaftigkeit offen, ein Hinhalten, Hinauszögern und Lavieren. Dieser Fiebertraum mit seinen Kontrasten zwischen Ohnmacht, Wahnsinn, entfesseltem Leviathan und uniformierter Brutalität, aber auch die dunkelgrüne Feuchte der Berner Oberländer Natur mit ihrem Anarcho- Einschlag, all das erinnert irgendwie an das filmische Meisterwerk des kanadisch-bulgarischen Regisseurs Ted Kotcheff von 1982: Rambo, der traumatisierte Vietnam Veteran, hinter dessen brachialem Äusserem letztlich ein verletzter, weinender Junge steckt, und ihm gegenüber die korrumpierte Staatsmacht in der Person des bösartig-töpelhaften Sheriffs. Mit einem Unterschied: Im Film überlebt der Gejagte.

Auch «Tod in Adelboden» ist grosses Kino. Ganz herzliche Gratulation.

Tod in Adelboden

2020 tötet die Spezialeinheit Enzian einen Mann. Seither tut sich die Justiz schwer – musste es so weit kommen? Chronik einer Gewaltnacht.

Erschienen am 1. Juli 2023
Von Cedric Fröhlich und Quentin Schlapbach (Text) und Karin Widmer (Illustrationen)

Teil 1 – Der Tag, an dem die Polizei Martin M. erschoss

Martin M. hat die Fensterläden verrammelt, die Vorhänge zugezogen, alle Türen verschlossen. Ein letztes Mal hat er den Belagerungszustand verhängt, noch einmal die Welt ausgesperrt. In seinem Schlafzimmer ist es stockfinster.

M. – 44, dunkles Haar, ein kleiner, unscheinbarer Mann – befindet sich im Krieg gegen einen Feind, der in Wasserleitungen gurgelt und mit Rasenmähern röhrt, der bimmelt und blökt, knallt und lacht. Gegen einen Feind, der durch jede noch so dicke Mauer und in jedes Schlafzimmer findet. Gegen den Lärm.

Er floh vor ihm aus der Stadt in die Berge. Von Zürich bis nach Adelboden. Jeder Umzug ein Rückzugsgefecht, verbunden mit der Hoffnung, den Gegner in Schach zu halten. Jetzt steht er da, die Pistole in der Hand – Glock, Modell 19, 4. Generation.

Vor seiner Schlafzimmertür presst sich ein Kommando der Sondereinheit Enzian in den schmalen Korridor. Schwer bewaffnete Männer mit dunklen Schutzwesten und Helmen. Die Einsatzleitung hat entschieden: Die Zeit für Verhandlungen ist vorbei.

Mit einer Ramme donnern sie das Türschloss auf. Der erste Polizist drängt in den Raum, sieht M. und schreit: «Achtung Waffe! Waffe! Waffe! Waffe!» Er drückt ab. Zuerst nur einmal, dann vier weitere Male. Zwischen den fünf Schüssen lässt er seinen Schutzschild vornüberfallen.

Zwei Projektile verfehlen M. Eines durchbohrt M.s linken Oberschenkel und seinen Hodensack. Eines bleibt in seiner Brust stecken. Ein weiteres schlägt in seinem Hinterkopf ein.

Es ist der Abend des 21. Mai 2020, 19.58 Uhr. Die Meldung kommt über Funk: Tod der Zielperson. Der Staat hat Martin M. erschossen.

Der Fall Martin M.

In der Schweiz kommt es durchschnittlich zu 13 Tötungsdelikten mit einer Schusswaffe pro Jahr. Es sind rare, aber fundamentale Brüche im menschlichen Zusammenleben. Tötet ein Mensch einen anderen, so antwortet die Justiz in der Regel wuchtig, scheut sie weder Zeit noch Aufwand. Im Fall von Martin M. aber ist so vieles anders.

Mehr als drei Jahre sind seit den Schüssen in Adelboden vergangen. Weder der Schütze noch die beiden Einsatzleiter mussten sich bislang in einem Gerichtssaal rechtfertigen. Die Staatsanwaltschaft wollte das Verfahren gegen die drei Polizisten bereits einstellen.

Angehörige von Martin M. hatten sich gegen die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft gewehrt und erhielten in praktisch allen Punkten recht. Auf 24 Seiten zerpflückte die Beschwerdekammer in Strafsachen des Berner Obergerichts die Argumen der Staatsanwaltschaft, der zufolge der Zugriff, die fünf Schüsse, die tödliche Eskalation eindeutig verhältnismässig waren. Gestützt auf die Verfahrensakten und die Protokolle kritisierte das Gericht die Ermittlungen als unvollständig und zu unkritisch.

Danach passiert lange Zeit: nichts. Das macht den Fall Martin M. zu einem Exempel. Dafür, wie zaghaft die Schweizer Strafverfolgung vorgeht, wenn sie gegen ihre eigenen Leute ermitteln muss. Erst in diesen Tagen finden zum ersten Mal seit 2020 wieder Einvernahmen statt.

In einer zweiteiligen Serie rekonstruieren wir, wie es zum fatalen Einsatz der Sondereinheit Enzian kam. Und wie schwer sich die Strafverfolgungsbehörden bis heute damit tun, gegen ihre eigenen Leute zu ermitteln. Die folgenden Schilderungen stützen sich auf anonymisierte Einvernahmeprotokolle der am Einsatz beteiligten Beamten, auf mehrere Hundert Seiten Akten und auf Gespräche mit Angehörigen und Bekannten von Martin M.

Für sämtliche Personen, über die wir in der Folge berichten, gilt die Unschuldsvermutung.

Flucht

Martin M. wächst in einer Gemeinde am linken Zürichseeufer auf. Er ist das mittlere von drei Geschwistern. Streiten sich die anderen zwei, vermittelt er. Seine eigenen Probleme trägt er derweil mit sich selbst aus. In sich gekehrt geht er durchs Leben, und lange wirkt er damit nicht unglücklich. Gleichzeitig erkennt niemand, was sich über all die Jahre in seinem Innern manifestiert, auftürmt, Bahn bricht.

Das menschliche Gehör ist Sensor und Filter zugleich, ein komplexes Miteinander von Gehörgang, Innenohr und Gehirn, das Schall in menschliche Empfindung übersetzt. Zugleich trennt es Wichtiges vom Unwichtigen: das Weinen des Kindes vom Rauschen der fernen Autobahn. Das gute Gespräch vom Geklapper von Messer und Gabel. Martin M. schafft diese Differenzierungen irgendwann nicht mehr. In ihm vermischt sich alles zum Getöse.

M. lebt mit dem Asperger-Syndrom, einer autistischen Veranlagung, gepaart mit einer Hypersensibilität, einer ausgeprägten Lärmempfindlichkeit. Die Diagnose erhält er erst im Erwachsenenalter. Je älter er wird, umso schwerer fällt es ihm, zu unterscheiden: das Geflüster vom Schrei, das Rascheln vom Sturm.

Bevor die Krankheit in seinem Leben endgültig die Regie übernimmt, ist Martin M. ein kreativer Mensch. Er malt, schreibt und fotografiert. Er arbeitet in der kleinen IT-Bude seines jüngeren Bruders, entwickelt eine Software für Buchautoren, mit der sich Plot, Protagonisten, Dramaturgie büscheln lassen.

In dieser letzten, geregelten Arbeit spiegeln sich die Maximen des Martin M. wieder: Ordnung. Übersicht. Kontrolle. Mit diesen Werkzeugen hatte er sich eine Schallmauer gegen den Lärm dieser Welt gebaut. Als sie zu bröckeln beginnt, tritt M. zunächst einen geordneten Rückzug an.

Sein jüngerer Bruder fragt ihn: «Es gibt so viele schöne Orte in der Schweiz, was hält dich noch in dieser Stadt?» M. weiss darauf keine Antwort. Er verlässt Zürich und den Wohnblock, in dem er jahrelang gelebt hat. Die Wahl fällt auf Grindelwald. Er war immer gerne in der Natur, ging auf die Ski und auf Wanderungen.

Zugleich steigt er aus. M. löscht Mailkonten, tilgt seine Spuren aus dem Internet, schaltet den PC nur noch ein, wenn es eben nicht anders geht. Für den Moment scheint es, als fände er nach der Stadtflucht den Halt wieder. In Wahrheit schlittert er tiefer, tiefer, immer tiefer.

Auf Grindelwald folgen Frutigen, wo er eine Zeit lang bei einem Landwirt arbeitet, und mehrere Adressen in Adelboden. Seine Flucht wird immer erratischer. Von einer Wohnung in die nächste, ein unablässiges Aus- und wieder Zusammenpacken. Mal sind ihm die Geissen im Pferch nebenan zu laut, mal die Gäste in der Ferienwohnung eine Etage höher. Er dreht Warmwasserleitungen ab, beschwert sich bei Vermieterinnen, er hadert, zetert und schläft kaum noch.

Für den Einkauf im Dorf trägt er einen Gehörschutz und zu Hause Noise-Cancelling-Kopfhörer. Sein Leiden macht ihn zum IV-Fall, er begibt sich immer mal wieder in Behandlung. Und doch zeigt er seine tiefe Verzweiflung nur ganz wenigen.

«Es war ihm einfach nicht wohl auf dieser Welt», sagt jemand, der ihm in diesen letzten Jahren eine Stütze ist. Flüchtigen Bekannten bleibt er ein Mysterium.

M. erzählt niemandem von der Pistole. Wie er den Waffenschein macht, die Glock legal erwirbt. Womöglich hält er die Niederlage gegen den Lärm irgendwann für gewiss. Was ihm an Kontrolle bleibt, beschränkt sich auf die Art der Kapitulation. Im Krieg entscheidet der Verlierer, wie lange gekämpft wird.

Suiziddrohung

Der 21. Mai 2020 ist ein Donnerstag. In Adelboden hat der Frühling Einzug gehalten, und auf der lokalen Polizeistation hat nur ein Beamter Dienst, als um 15 Uhr das Telefon läutet. Am Apparat ist eine Frau. Sie hat Angst vor Martin M.

Der Hörnliweg liegt in den nordöstlichen Ausläufern des Dorfes – vortreffliche Lage, Chalet an Chalet, eine scharfe Kurve zum Ende hin. Hier wohnt Martin M. – noch. An diesem Nachmittag steht er einmal mehr zwischen Umzugskartons und packt. Ihn zieht es auf die gegenüberliegende Talseite. In ein Häuschen im Abseits, wo kein Bus verkehrt und es keine Nachbarn gibt. Vor wenigen Stunden hat er den Mietvertrag unterzeichnet und die Schlüssel entgegengenommen. Er soll fahrig gewirkt haben, aber nicht wie einer, der im Begriff ist, außer Kontrolle zu geraten.

Zurück am Hörnliweg holen ihn seine Dämonen ein. Er poltert und schreit, drischt auf irgendetwas ein. Was ihn derart in Rage versetzt – ob banaler Umzugsstress oder der Wahn –, darauf wird es nie eine Antwort geben. Vermutlich hat er seit Wochen kaum ein Auge zugemacht. Seine Schlaflosigkeit bezeichnet er als «eine Form von Folter».

Die Frau am Hörer erzählt dem Beamten vom Mann, der über ihr wohnt. Sie berichtet, seit Tagen gehe das nun so, höre sie, wie er tobe und fluche. Sie halte es nicht mehr aus in ihren eigenen vier Wänden.

Der Polizist wird all das in seinen Bericht schreiben. Ebenso den Umstand, dass er Verstärkung anforderte. Wie er mit einem Kollegen in den Dienstwagen stieg und an den Hörnliweg fuhr. Und wie er im Rahmen einer Erstabklärung etwas Beunruhigendes feststellte: Martin M. wird im Waffenregister geführt.

Für zusätzliche Nervosität sorgen Mails und SMS. «Die fewo bleibt bis ende mnt leer oder ich bringe mich um», schreibt M. noch um 17.15 Uhr an seine Vermieterin. Gemeint ist die Ferienwohnung über seiner eigenen. Nicht zum ersten Mal deutet M. an, sich und seiner Pein ein Ende zu machen.

Die behandelnde Ärztin von Martin M. wird avisiert. Unter den gegebenen Umständen hält sie eine fürsorgerische Unterbringung für angebracht, wenn Martin M. weiter nicht mit sich reden lassen sollte.

Als die Polizisten vor Ort eintreffen, nähern sie sich vorsichtig dem Chalet. Sie klopfen, erhalten aber keine Antwort. Die Tür ist verschlossen, Martin M. nirgends zu sehen. Eine Person, die ihn in Adelboden mit am besten kennt, rät der Polizei telefonisch: «Treiben Sie ihn nicht in die Enge, er braucht immer einen Fluchtweg.»

Mehrmals rufen die beiden Polizisten M. auf dem Handy an – Combox. Die Wohnungstür lässt sich auch beim zweiten Versuch und mit einem Passepartout nicht öffnen. Dann spricht Martin M. endlich: «Kömmet nume, kömmet nume… dir huure Wixxere hauet ab, wagets nid inezcho.»

Für die Polizisten fügt sich nun alles zusammen. Der Waffenschein, die fehlende Kooperation, das Gepolter, die Suizidandrohungen: Dieser Mann ist eine Gefahr. Nicht nur für sich selbst.

Alarm in der Zentrale. Die Polizei ist sich einig, die Lage am Hörnliweg ist ab jetzt ein Fall für die Sondereinheit.

Elite

Kurz vor 18 Uhr, in Ittigen rast eine Fahrzeugkolonne los. Blaulicht. Bis nach Adelboden sind es 69 Straßenkilometer. In den Wagen sitzt die Elite der Kantonspolizei Bern. Die Spezialeinheit Enzian ist die Spitze des staatlichen Gewaltmonopols, das schwer bewaffnete Berner Pendant zu den S.W.A.T.-Teams in den USA. Ihre Mitglieder sind geschult für Anti-Terror-Einsätze, Geiselnahmen und den Schutz von besonders wichtigen Personen. Es heißt, nicht einmal die Ehepartnerinnen wüssten etwas davon, wenn ihr Mann für die Sondereinheit arbeitet.

In Ittigen befindet sich die Basis der Einheit. Das Briefing vor Ort war kurz. Noch während der Fahrt ins Bergdorf gibt der Einsatzleiter weitere Details via Funk durch. Im dritten Wagen der Kolonne sitzt ein Mann, den wir fortan Schildführer nennen. Er wird dem Notelement zugeteilt: Sollte es zur Stürmung kommen, würde er hinter einem fahrbaren Schutzschild und als Erster in die Wohnung eindringen. Über Funk kommt rein: Zielperson hat Asperger. «Wenn ich ihn anspreche, muss es sachlich sein», sagt sich Schildführer.

Der Korso der Spezialeinheit trifft um 18.33 Uhr am Hörnliweg ein. Die reguläre Polizei – im Enzian-Slang: die «Uniform» – hat das Chalet von Martin M. bereits umstellt. Um 18 Uhr hatte sie einen letzten Blick auf ihn erhascht, als er seine Fensterläden schloss. Ein Scharfschütze bringt sich in Position. Eine Drohne fliegt ums Haus. Die Spezialeinheit fährt ihr Arsenal auf, bleibt vorerst aber auf Distanz. Wieder verlaufen Anrufversuche im Leeren. Auch die Kontaktaufnahme via Megafon scheitert. Martin M. bleibt stumm.

Gegen 19 Uhr öffnet ein Roboter die Eingangstür zum Chalet, liefert fortan Bilder aus dem Treppenhaus, dringt weiter vor zur Wohnungstür. Verschlossen. Die Einsatztruppe erhält das «Go», zuvorderst Schildführer, die Verhandlungsgruppe im Schlepptau – sie trägt Hellblau, soll näher an Martin M. herangebracht werden, um endlich ins Gespräch zu kommen.

Vor der Wohnungstür wechselt Schildführer von der Langwaffe auf die Pistole – 9 Millimeter. Der Kollege zu seiner Rechten spannt eine Hydraulikpresse in den Türrahmen, drückt. Hinter ihm spricht ein anderer Enzian-Beamter – wir nennen ihn Verhandlungsführer – ins Megafon. Keine Reaktion.

Ein kleinerer Roboter wird auf Aufklärungsmission geschickt. Erster Raum, clear. Badezimmer, Duschvorhang gezogen. Dritter Raum, verschlossen. Schildführer bezieht Stellung vor der verschlossenen Tür, der Rest schwärmt aus. Küche und Wohnzimmer, negativ. Blick hinter den Duschvorhang, negativ.

Pattsituation

Polizeiarbeit ist gefährliche Arbeit. Weil der Mensch und das Leben unberechenbar sind. Die Gefahr lässt sich hundertfach simulieren, im echten Leben fühlt sie sich doch ganz anders an. Schildführer wird später bei seiner Einvernahme sagen, dass ihm in diesen Sekunden vor der Schlafzimmertür der Todesfall eines Polizisten in Gelsenkirchen durch den Kopf ging.

Drei Wochen vor dem Einsatz in Adelboden, am 29. April 2020, wurde ein 28-jähriger Beamter eines deutschen Spezialeinsatzkommandos (SEK) bei einem Einsatz erschossen – durch eine Türe hindurch. Auch im Kanton Bern starb auf diese Weise schon einmal ein Polizist. 2011 feuerte in Schafhausen im Emmental der Straßenarbeiter Roger F. mit seinem Sturmgewehr durch die verschlossene Türe.

Immer, wenn es um die Enzian geht, fällt irgendwann auch der Name Peter Hans Kneubühl. Der Rentner schoss im Sommer 2010 einem Mann der Spezialeinheit aus nächster Nähe in den Kopf. Dieser überlebte nur durch ein Wunder.

Vor der Schlafzimmertür von Martin M. läutet die Spezialeinheit Phase zwei des Einsatzes ein. Die dünnen Holzwände des Chalets bereiten den Männern Sorge. Verhandlungsführer ergreift das Wort, kniend, hinter dem Schutzschild. Er fragt Martin M., ob es ihm gut gehe, spricht ihn auf die Waffe an und auf die vermutete Suizidabsicht. Es ist jetzt ungefähr 19.40 Uhr, das Kommando steht vor seinem Schlafzimmer. Erst nach Minuten sagt Martin M.: «Was faut euch eigendlech ii?»

Lässt er es auf eine Eskalation hinauslaufen? Oder wird sie ihm in diesen Augenblicken endgültig aufgezwungen? Fragen nach einer Waffe lässt er unbeantwortet, er droht aber auch nicht, dass er schießen würde, sollte sich jemand nähern. Er interagiert mit den Polizisten. Mehrere von ihnen werden später Wortschnipsel wie «geht weg» oder «maximal eine Person in meiner Wohnung» zu Protokoll geben. Aber im Moment verstehen sie nur Bruchstücke von dem, was Martin M. sagt. Das liegt auch am Equipment der Spezialtruppe.

Ein Aktivgehörschutz hat die Funktion, einzelne Geräusche zu verstärken und andere zu vermindern. Er soll Lärm abdämpfen, nicht aber das gesprochene Wort. In diesem Moment versagt diese Technik. Verhandlungsführer kann Martin M. kaum verstehen. Immer wieder schaltet sein Gehörschutz den Ton ab, immer wieder muss er bei Schildführer und den anderen nachfragen, was M. gerade gesagt hat.

Die Einsatzleiter vor dem Chalet geben ein weiteres Tool für den Einsatz frei: ein Videoskop, eine an einem Schlauch befestigte Kamera, mit der die Polizisten unter der Schlafzimmertür hindurch in den Raum schauen. Nichts zu sehen. Der Techniker schiebt den Schlauch weiter ins Zimmer, bis plötzlich eine Hand danach greift. Martin M. zieht am Schlauch, einmal, zweimal. Wie bei einem Katz-und-Maus-Spiel, so kommt es den Beamten vor. Bis der Operateur schließlich die Bedienung loslässt.

Zugriff

Die Verhältnismäßigkeit bestimmt den Handlungsspielraum des demokratischen Rechtsstaats. Es ist ein Abwägen von Mittel und Zweck. Bei aller Drastik und aus der luxuriösen Perspektive der Rückschau: Bis vor der Schlafzimmertür hält sich die Polizei an diese Spielregeln. Zu diesem Schluss werden später die Staatsanwaltschaft wie auch das höchste Gericht im Kanton Bern kommen. Ob das, was in den nächsten Sekunden folgen wird, aber noch verhältnismäßig ist, ist auch drei Jahre später umstritten.

Die Zeit für Verhandlungen ist vorbei. Das entscheidet die Einsatzleitung. Per Funk ertönt: Zugriff bei günstiger Gelegenheit. Die Ramme donnert gegen die Tür. Beim zweiten Schlag springt sie auf. Schildführer und Martin M. stehen einander gegenüber, eineinhalb Meter trennen sie. Zwei Männer mit erhobenen Pistolen. Schildführer wird diesen Augenblick am Tag danach so beschreiben:

«Ich habe einmal ‹Polizei, Waffe weg!› gerufen und gleichzeitig einmal geschossen. Meine Wahrnehmung war, dass er auf diesen Schuss reagiert hat und weiter nach rechts gehüpft ist. Aber das waren Bruchteile einer Sekunde, in welcher seine Waffe kurz nach unten ist und gleichzeitig ist mein Schild nach vorne auf den Boden gefallen. Er hat seine Waffe wieder auf mich gerichtet, woraufhin ich mehrmals auf ihn geschossen habe und mich gleichzeitig in das Bad, wo schon zwei Personen drin waren, gequetscht habe. Ich habe noch gesehen, wie er sofort zusammengesackt ist. Die Wirkung war da.»

Protokoll

Wenn ein Polizist zu seiner Dienstwaffe greift, tritt ein Protokoll in Kraft: Verhalten nach gravierenden Ereignissen. Schildführer muss Urin, Blut und Waffe abgeben. Dann fährt ihn der Einsatzleiter zurück nach Ittigen. Dort versammelt sich die Sondereinheit zum Debriefing. Wer reden will, darf reden. Wer sie benötigt, erhält psychologische Betreuung.

Die forensische Untersuchung wird später zum Schluss kommen, dass Martin M. auf der Stelle tot war. Er selbst hat nie einen Schuss aus seiner Glock abgegeben.

Um 2 Uhr ist der Einsatz beendet. Wenige Stunden später beginnen die Einvernahmen bei der Staatsanwaltschaft.

Tod in Adelboden

Nach den Schüssen auf Martin M.: Die Verantwortlichen bei der Kantonspolizei weisen jegliches Fehlverhalten von sich. Der Staatsanwalt hat Beisshemmungen. Und ein Bruder kämpft.

Erschienen am 3. Juli 2023
Von Cedric Fröhlich und Quentin Schlapbach (Text) und Karin Widmer (Illustrationen)

Teil 2 – Die Sondereinheit Enzian im Visier der Justiz

In einem Sitzungszimmer im Berner Amthaus beginnt die Einvernahme des Polizisten, der am Tag zuvor Martin M. mit fünf Schüssen getötet hat. Ihm gegenüber sitzt der stellvertretende Leiter der Staatsanwaltschaft für Besondere Aufgaben des Kantons Bern. Er fragt: «Wie geht es Ihnen?» Der Polizist, wir nennen ihn fortan Schildführer, antwortet: «Im Moment recht gut, ich konnte schlafen.»

Keine 24 Stunden sind zu diesem Zeitpunkt seit dem Einsatz in Adelboden vergangen. Punkt für Punkt rekapituliert Schildführer, wie seine Einheit mit Blaulicht vom Unterland ins Bergdorf fuhr, erzählt vom umstellten Chalet mit den zugezogenen Fensterläden. Er schildert den Zugriff über das Treppenhaus, wie er mit seinem Schild den Rest der Truppe schützen musste. Er sagt, was ihm vor der Schlafzimmertür durch den Kopf ging, in den Sekunden vor der Schussabgabe.

Es ist Freitag, der 22. Mai 2020, 14.40 Uhr. In Bern hat die Aufarbeitung eines tödlichen Polizeieinsatzes begonnen.

Rückblende

In der Schweiz greifen Polizistinnen und Polizisten äußerst selten zur Dienstwaffe. Im Jahr 2020 kam es zu zwölf Schussabgaben durch die Polizei, bei denen zwei Menschen starben, darunter Martin M.

Im ersten Teil dieser Serie haben wir den Einsatz rekonstruiert, der zu seinem Tod führte. Martin M. litt an einer Hyperakusis, einer extremen Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen. Am 21. Mai 2020 rückte ein Kommando der Sondereinheit Enzian nach Adelboden aus, nachdem er durch sein Poltern und Schreien andere verängstigte. Nach gescheiterten Verhandlungen rammte die Polizei die Schlafzimmertür auf, woraufhin M. mit gezückter Pistole vor ihnen stand. Schildführer feuerte fünfmal auf ihn, und M. starb durch einen Schuss in den Hinterkopf. War dieses Ende unausweichlich?

Dieser zweite Teil handelt vom Kampf der Familie von Martin M. Sie drängt darauf, dass sein Tod vor Gericht verhandelt wird. Dass dies nicht schon längst passiert ist, hängt mit der Zurückhaltung einer Behörde zusammen, die gegen ihren engsten Verbündeten ermitteln muss – mit der systembedingten Nähe zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei. Die Anklagebehörde wollte das Verfahren bereits einstellen, doch das Berner Obergericht hob diese Entscheidung nach einer Beschwerde der Opferfamilie auf. In diesen Tagen gibt es neue Entwicklungen in diesem Fall, und zum ersten Mal seit 2020 werden wieder Befragungen durchgeführt.

Die folgenden Informationen basieren auf anonymisierten Einvernahmeprotokollen der beteiligten Beamten, auf umfangreichen Akten von mehreren Hundert Seiten und auf Gesprächen mit Angehörigen und Bekannten von Martin M. Für alle Personen, über die wir in der Folge berichten, gilt die Unschuldsvermutung.

Der Bruder

Manchmal versagt Stefans Stimme, wenn er über seinen verstorbenen Bruder spricht. Besonders, wenn er sich vorstellt, wie Martin gestorben ist, übermannt es ihn: «Im Moment, wo er am meisten Hilfe nötig hatte, kam die völlig falsche Einheit mit dem völlig falschen Auftrag.»

Stefan ist ein fiktiver Name, den dieser Mann für ein Interview unter der Bedingung anonym bleiben zu dürfen gewählt hat. Er kann bis heute nicht abschließen und muss dennoch irgendwie weitermachen.

Stefan hadert mit der Art und Weise, wie der Tod seines Bruders und der Einsatz bis heute aufgearbeitet worden sind: «Ich bin überhaupt nicht jemand, der gegenüber der Polizei kritisch eingestellt ist.» Grundsätzlich habe er das Gefühl, dass die Schweiz ein Land sei, in dem man der Polizei vertrauen könne. «Aber wenn jemand bei einem Einsatz stirbt, muss doch irgendwer dafür die Verantwortung übernehmen.»

Am Tag nach dem tödlichen Einsatz informierte die Staatsanwaltschaft für Besondere Aufgaben die Familie von Martin M. darüber, dass sie die Ereignisse in Adelboden untersuchen und die Einsatzverantwortlichen befragen werde. Stefan hatte ein Grundvertrauen in die Arbeit von Justiz und Polizei, in «das System», und hoffte, dass diese Untersuchung Antworten auf seine vielen Fragen liefern würde.

Pflichtenheft

m Berner Amthaus während der Befragung durch die Staatsanwaltschaft war die Sachlage für Schildführer klar: Er gab fünf Schüsse auf Martin M. ab, ohne dass dieser das Feuer erwiderte. Die zentrale Frage war, ob Schildführer aus Notwehr handelte.

Es gab Argumente dafür: Mehrere Augenzeugen sollten später aussagen, dass Martin M. mit seiner Waffe auf Schildführer und seine Kollegen gezielt habe. Schildführer und die anderen Beamten fühlten sich demnach in Lebensgefahr. Der Staatsanwalt sollte in seiner Einstellungsverfügung festhalten, dass Schildführer keine andere Wahl hatte, als sich auf diese Weise zu verteidigen. Dennoch würden die fünf Schüsse aus nächster Nähe als «eine in ihrer Heftigkeit kaum zu übertreffende Abwehrreaktion» betrachtet.

Die Frage blieb, ob jeder dieser fünf Schüsse notwendig war. Hätte der erste isolierte Schuss, den Martin M. nicht erwiderte, die Gefahr nicht bereits gebannt? Waren Schildführer und die Spezialeinheit Enzian nicht darauf trainiert, Personen ohne fünffaches Schießen anzuhalten? Außerdem stellten sich Fragen zu den Entscheidungen der Vorgesetzten, die Schildführer überhaupt erst in diese Lage gebracht hatten.

Während der Befragung ließ der Staatsanwalt Schildführer frei erzählen und stellte bis zuletzt keine konfrontativen Fragen, obwohl der Vorwurf der vorsätzlichen Tötung im Raum stand. Erst ganz zum Ende fragte er Schildführer: «Haben Sie im Nachhinein das Gefühl, dass Sie etwas hätten besser machen können?» Schildführers Antwort war kategorisch: «Nein.»

Vertrauensbonus

Die Polizei geniesst in unserer Gesellschaft ein fast schon beispielloses Grundvertrauen. Zu Recht: Wer die 117 wählt, dem wird geholfen. Polizistinnen und Polizisten entschärfen täglich Hunderte, wenn nicht Tausende kleine und grössere Konflikte. Machtmissbrauch, Willkür und Korruption, all die Dinge, die in anderen Ländern mit der Staatsgewalt assoziiert werden, kennen wir von unserer Polizei so nicht. Einzelfälle ausgenommen.

Dieser Vertrauensbonus hat eine Kehrseite: Kritik an Polizeieinsätzen wird von der Politik wie auch von Teilen der Zivilgesellschaft oft reflexartig zurückgewiesen. Der Polizei haftet der Nimbus der Unfehlbarkeit an. Wie geht eine solche Behörde damit um, wenn einmal etwas schiefläuft?

Nach dem Schützen weisen auch seine beiden Vorgesetzten, die für den Einsatz verantwortlich waren, jegliches Fehlverhalten von sich. «Ich würde heute nichts anders machen», sagt der eine. «Vielleicht hätte man etwas anders machen können, aber das wäre eine Hypothese», sagt der andere.

Auch gegen sie ermittelt die Staatsanwaltschaft für Besondere Aufgaben von Amtes wegen. Die beiden Vorgesetzten der Kantonspolizei müssen sich dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung stellen. Die Frage, die bei ihnen im Raum steht: War der Einsatz in Adelboden bis zuletzt verhältnismässig? Oder hätte es nicht auch andere Möglichkeiten gegeben, um Martin M. an diesem Tag anzuhalten?

Offene Fragen

Die Protokolle, die während der Einvernahmen in den Tagen nach den Schüssen in Adelboden entstehen, gleichen sich. Gezeichnet wird das Bild eines sorgfältig durchgeführten Einsatzes, bei dem man Schritt für Schritt vorgegangen sei.

«Die Vorgehensweise war nach Lehrbuch. Es gab keine Patzer oder Schnitzer, und man müsste das wieder so machen», sagt der operative Techniker. «Wir haben ohne Druck gearbeitet, wir sind nicht einfach so planlos da rein», gibt der verantwortliche Dezernatsleiter zu Protokoll. Nachfragen zum Geschehensablauf stellt der Staatsanwalt nur vereinzelt. Widersprüche in den Aussagen oder Fragen zur Verhältnismässigkeit macht er nicht zum Thema. Dabei liegen diese auf der Hand. Der Entscheid der Beschwerdekammer des Obergerichts wird fast zwei Jahre nach diesen Befragungen eine Vielzahl davon aufwerfen:

  • Weshalb brach die Polizei die Verhandlungen vor der Schlafzimmertür ab?
  • Woher kam die dringliche Notwendigkeit, die Schlafzimmertür gewaltsam zu öffnen?
  • Was liess die Beamten glauben, M. sei nicht zum Dialog bereit?
  • Was ist mit dem Schutzschild geschehen, der dem Schützen laut dessen eigener Aussage nach dem ersten Schuss aus der Hand nach vorn gefallen sein soll, den aber ein anderer Augenzeuge auf Martin M. liegen sah?
  • Hat die Spezialeinheit die angebliche Notwehrsituation nicht selbst verursacht, indem sie ins Zimmer eindrang?

Der Liste hinzufügen liesse sich: Stehen der Polizei nicht andere Mittel zur Verfügung, um eine suizidgefährdete Person in einer psychischen Notsituation anzuhalten?

Danach gefragt, ob es üblich sei, dass potenziellen Beschuldigten keine Nachfragen zum Geschehensablauf gestellt würden, entgegnet die Staatsanwaltschaft: «Grundsätzlich steht es der Staatsanwaltschaft bei der Aufklärung eines Sachverhaltes frei, wem sie welche Fragen wann, wie und weshalb stellt.» Tatnähere Personen würden anders befragt als solche, die nicht unmittelbar ins Geschehen involviert gewesen seien. «Das sind taktische Entscheide, die wir nicht kommentieren.»

Aufgrund der Befragungen und forensischen Untersuchungen kommt die Anklagebehörde im Juli 2021 zum Schluss: Das Verfahren gegen die drei Polizisten wird eingestellt.

In seiner 25-seitigen Verfügung schreibt der verantwortliche Staatsanwalt: Der Schütze habe klar aus Notwehr gehandelt; die Stürmung des Schlafzimmers sei verhältnismässig gewesen. Es bestehe kein Anlass, an den Aussagen der befragten Polizisten zu zweifeln. Auch gebe es «keine ernst zu nehmenden Hinweise auf ein alternatives Tatgeschehen».

Der tödliche Polizeieinsatz soll ad acta gelegt werden – ohne öffentliches Gerichtsverfahren. Da Einstellungsverfügungen grundsätzlich nicht publiziert werden, hätte die Öffentlichkeit wohl nie erfahren, was an diesem Tag in Adelboden genau passiert ist.

Der Anwalt

Zürich, Kreis 4, eine kleine Kanzlei. Stephan Schlegel sitzt in seinem Büro. Der Fall Martin M. ist auch sein Fall. Schlegel – deutscher Schalk, Typ gutmütiger Hüne – vertritt die eine Hälfte der Opferfamilie.

Schlegel legte Beschwerde ein gegen die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft. Wenn die Strafverfolger regelrecht zur Jagd getragen werden müssten, dann stehe es nicht gut um deren Unabhängigkeit, sagt er.

In mehr als 99 Prozent aller Fälle sind Staatsanwaltschaft und Polizei Verbündete. Sie arbeiten miteinander, um Vergehen und Verbrechen aufzuklären und zu sanktionieren. Wird einer Polizistin oder einem Polizisten eine Straftat vorgeworfen, so tritt der Ausnahmefall ein. Dann führen die Ermittlungen quasi in die eigenen Reihen. Und, so sagt es Schlegel: «Gegen die Guten zu ermitteln, das erfordert ein robustes Selbstvertrauen.»

Für ihn steht – wenig überraschend – fest: Beim Einsatz wurden grobe Fehler begangen. «Die sind einfach da rein und sind dabei ein unverhältnismässiges Risiko eingegangen! » Für ihn hat das auch etwas mit dem Wesen einer Spezialeinheit zu tun: «Für einen Hammer sieht alles wie ein Nagel aus.» Auch M., der laut Schlegel nie mit der Waffe gedroht hat.

Die Verantwortung sieht er vor allem bei der Einsatzleitung. «Der Schütze konnte am wenigsten dafür. Seine Vorgesetzten haben ihn in dieses Desaster geschickt.»

Ohrfeige

Schlegel dringt mit seiner Beschwerde durch: Im März 2022 kassiert das Obergericht des Kantons Bern die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft für Besondere Aufgaben praktisch auf der ganzen Linie. Im Entscheid stellt das Gericht infrage, ob der Einsatz bis zuletzt verhältnismässig war. Weder gebe es aus den Aussagen der Polizisten einen zwingenden Hinweis darauf, dass die Verhandlungen mit Martin M. gescheitert oder unmöglich gewesen seien, noch habe eine «dringliche Notwendigkeit» bestanden, die Schlafzimmertür gewaltsam zu öffnen. Auch äussert das Gericht Zweifel daran, ob die fünfmalige Schussabgabe noch vom Notwehrrecht gedeckt war.

Insbesondere sieht es eine Grundregel verletzt: in dubio pro duriore – im Zweifel für das Härtere. Erscheint ein Schuldspruch nicht von vornherein als höchst unwahrscheinlich, so muss die Staatsanwaltschaft Anklage erheben. Weiter bemängelt das Gericht die Ermittlungen: fehlende Einvernahmen von Zeugen, generelle Ungereimtheiten, ungenügende Abklärungen bezüglich der Schussabfolge. «Zusammenfassend ist das Verfahren gegen die drei Beschuldigten nach der Vornahme allfällig weiterer Ermittlungshandlungen voraussichtlich zur Anklage zu bringen», so das Obergericht.

Dieser Entscheid ist kein Schuldspruch zulasten der Polizisten. Aber er ist eine Ohrfeige für die Staatsanwaltschaft für Besondere Aufgaben. Es hat zur Folge, dass die Verfahren gegen die drei Polizisten bis heute andauern.

«Kein Stopp-Knopf»

Wofür steht der Fall Martin M.?
Patrice Zumsteg ist promovierter Jurist und Anwalt, Dozent an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften in Winterthur. Er forscht zu Sicherheits- und Grundrechtsfragen. Für ihn geht es in Fällen wie jenem in Adelboden nicht bloss um die Schuldfrage. «Es geht darum, ob ein gutes Gleichgewicht der Interessen gefunden wurde, in welchem auch der Einzelne respektiert wird.»


Zumsteg ist ein durch und durch liberal denkender Mensch, einer, der selbst immerzu abwägt. Er sagt: «Ich habe grosses Vertrauen in die Polizei. Aber wie alle Organisationen macht auch sie Fehler.»

Was er kritisiert, ist das Abhängigkeitsverhältnis von Staatsanwaltschaft und Polizei – «eine grosse Schwäche unseres Systems». Man kenne sich, arbeite gut zusammen, verstehe sich auch persönlich. Tritt der seltene Fall ein, in dem Polizisten zu Verdächtigen werden, so stelle dies das System vor ganz triviale Probleme: «Wer macht sich schon gerne unbeliebt am eigenen Arbeitsplatz?»

In der Schweiz arbeiten aktuell rund 19’500 Polizistinnen und Polizisten. Anders als etwa in Grossbritannien oder Deutschland gibt es jedoch keine Behörde, die exklusiv Fälle von polizeilichem Fehlverhalten untersucht. Das Land ist dafür zu klein, die Zahl der Fälle zu tief.

Gab es ein Zurück für die Spezialeinheit, bevor sie die Schlafzimmertür von Martin M. aufwuchtete? Sah deren Protokoll auch mildere Massnahmen vor? Musste es so weit kommen, dass am Ende ein psychisch kranker Mensch tot ist?

Patrice Zumsteg sagt: Fragen wie diese gehörten vor einem Gericht gestellt. Nicht zum ersten Mal stellt er fest, dass Polizeieinsätze «offenbar über keinen Stopp-Knopf verfügen». Er hat im Fall Adelboden erhebliche Zweifel an der Verhältnismässigkeit des polizeilichen Vorgehens. «Wobei man immer aufpassen muss vor dem Rückschaufehler: Wir sitzen im bequemen Sessel, da ist es leicht zu sagen, man hätte alles ganz anders, alles viel besser machen können.»

Im Verfahren

Die Staatsanwaltschaft sagt heute, die Einstellungsverfügung sei vom Tisch, das Untersuchungsverfahren wieder offen. Wer fragt, ob sie den Fall zur Anklage bringe, erhält folgende Antwort: «Der Entscheid des Obergerichts ist eindeutig und ein klarer Hinweis dafür, dass wenn sich anhand der weiteren Untersuchung nicht neue Erkenntnisse ergeben, Anklage gegen die drei Polizisten zu erheben ist.»

Darüber hinaus will sich die Behörde nicht weiter äussern. «Für persönliche Gespräche in einer laufenden Untersuchung ist kein Raum», teilt sie schriftlich mit.

Die Kantonspolizei Bern teilt mit, sie wolle das laufende Strafverfahren abwarten. Zwei der drei Beschuldigten sind weiterhin im Dienst, einer ist ausgetreten. «Dieser Austritt erfolgte nicht in Zusammenhang mit dem laufenden Verfahren», schreibt eine Kapo-Sprecherin.

Die drei Anwälte der beschuldigten Polizisten geben an, dass sich ihre Mandanten aufgrund des laufenden Verfahrens nicht äussern möchten. Einen Katalog mit 17 Fragen zum schwierigen Einsatz, zur Fehlerkultur innerhalb der Polizei und nach ihrem persönlichen Wohlergehen lassen sie unbeantwortet.

In diesen Junitagen sollen zum ersten Mal wieder Einvernahmen stattgefunden haben – über drei Jahre nach den tödlichen Schüssen.

Hoffnung

Stefan M. ist ein feingliedriger, ein sanfter Mann. In vielem sei er seinem verstorbenen Bruder sehr ähnlich. An seinen guten Tagen war Martin ruhig, besonnen, zuverlässig. Als Stefan, der als selbstständiger Programmierer arbeitet, wegen einer Krankheit an den Händen einmal Hilfe brauchte, war Martin für ihn da. Ein Jahr lang übernahm er für ihn alle Tipparbeiten. Viel mehr als die Arbeit verband die beiden jedoch das ideelle Weltbild. «Wir sahen die Dinge meist ähnlich.»

Martins psychische Probleme nahm Stefan erst wahr, als beide bereits erwachsen waren. Er half Martin beim Umzug von Zürich ins Berner Oberland. Musste aber zusehen, wie er trotzdem nirgends zur Ruhe kam. Wenige Tage vor seinem Tod unterhielten sie sich noch per Skype. Martin erzählte von der neuen Wohnung auf der anderen Talseite. «Er hatte die Hoffnung, dass es ihm dort besser gehen würde.»

Wozu brauchte Martin eine Waffe? Diese Frage quält Stefan M. bis heute. «Sein ganzes Leben lang hat er jegliche Form von Gewalt stets abgelehnt.» Er kann es sich nur so erklären: Martin wollte selbst über sein Ende bestimmen. «Dass er jemals vorhatte, auf jemand anderen zu schiessen, kann ich mir schlicht nicht vorstellen.»

Dieses Bild von seinem Bruder bewahrt er sich. Martin hat nicht zurückgeschossen. Stefan sagt, ihm gehe es nicht darum, einen Schuldigen für den Tod seines Bruders zu finden. Aber die Verantwortlichen könnten immerhin zugeben, dass an jenem Tag Fehler begangen worden seien. Er hofft, dass der Fall vor einem Gericht verhandelt wird. Dass die Polizei in ähnlichen Fällen künftig anders handelt. Dass sie Lehren zieht aus dem Tod seines Bruders. Und dass er abschliessen darf.