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Birgit Schmid

Zürcher Journalistenpreis

Birgit_Schmid

Geboren 1972 in Aarau, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Komparatistik an der Universität Zürich und wurde 2004 promoviert. Sie arbeitete ab 1998 als Filmredaktorin für die «Neue Luzerner Zeitung» und als freie Journalistin u. a. für die «NZZ am Sonntag». Anschliessend Redaktorin bei der «Annabelle» und bei «Das Magazin» des Tages-Anzeigers, wo sie ab 2013 Stellvertretende Chefredaktorin war. 2015 wechselte sie in die Redaktion der NZZ, zuständig für das Ressort Gesellschaft. Sie schrieb die wöchentliche Kolumne «In jeder Beziehung». Heute Redaktorin im Feuilleton. Buchveröffentlichungen u. a.: «Lieben mich meine Katzen?», «Schönheit der Trauer».

laudatio

von Lisa Feldmann

Nicht zum ersten Mal bedient sich ein Portrait als Rahmenhandlung seines Scheiterns. Abgebrochene Termine mit Hollywoodstars wie Faye Dunaway im «Stern» oder Robert De Niro im «Guardian» sind mir noch nach vielen Jahren in Erinnerung – weil ich als junge Journalistin fand: Darauf würde ich mich niemals einlassen, das eigene Versagen öffentlich zu machen. Nicht aus Scham, sondern schlicht, weil der jeweilige Artikel zur Mogelpackung geworden war – nicht über die Schauspieler erfuhr man etwas, sondern ausschliesslich über die Kollegen und ihre Befindlichkeit; in beleidigtem Ton skizzierten beide ein gestörtes Machtverhältnis – und die ungerechte Behandlung ihrer hehren professionellen Absichten.

Birgit Schmid schlägt in ihrem Portrait der Basler Künstlerin Miriam Cahn einen anderen Weg ein. Sie nimmt uns mit ins Bergell, wo sie die Künstlerin in ihrem Atelier besucht. Sie erzählt uns, quasi noch unterwegs im Postbus, von den Fragen, die sie loswerden will, den Eindrücken aus den Begegnungen anderer Journalistinnen, die es möglicherweise zu korrigieren gilt. Auch von den medial wirksamen Skandalen, die frühere Auftritte der Künstlerin provoziert haben.

Dann folgen erste eigene Beobachtungen – und schon erfahren wir in wenigen Sätzen, warum die «Süddeutsche Zeitung» Cahns Erscheinung so treffend als die einer Hüttenwartin umschrieben hat. Schauen uns mit den Augen Birgit Schmids in dem spartanisch eingerichteten Atelier um und bekommen die wunde Seele der Künstlerin einen Moment lang zu fassen: wenn diese von den im Tode gestrandeten Flüchtlingen am Mittelmeer spricht.

Dann bricht eine Welle der Wut über die Journalistin herein. Die Kränkung durch eine vermeintlich kritische Frage, die Narzissten nur schwer aushalten können. Die flache Hand Miriam Cahns knallt auf den Tisch, der Ton wird unverschämt, jetzt gilt es, die Nerven zu behalten.

Birgit Schmid, so fühlt es sich an, tritt einen Schritt zurück. Nicht um der Brutalität auszuweichen, vielmehr: Um ihrer Protagonistin wieder nahe zu kommen. Und wir erkennen unter deren Widersprüchlichkeit ihr wahres Wesen.

Wenn sich Künstlerinnen mit Opfern identifizieren, wie einst Jenny Holzer mit den vergewaltigten Frauen des Jugoslawien-Krieges, oder auch: Wenn Künstler sich selbst als Täter darstellen, wie Anselm Kiefer in seinen Selbstportraits, die Hand zum Hitler-Gruss erhoben – dann lässt sich das leicht als wichtiger Beitrag zur Kunst verstehen.

Die Bilder Miriam Cahns zu ertragen – dafür hat uns Birgit Schmid einen Schlüssel in die Hand gedrückt. Wir haben zusammen mit ihr standgehalten, uns nicht wegbellen lassen. Und im unharmonischen Finale dieser Begegnung leuchtet plötzlich die Botschaft ihres Textes auf: Geht und schaut selbst, es lohnt sich.

«Da jagt es mir den Zapfen ab!»

Zorn treibt die Basler Künstlerin Miriam Cahn an – und lässt auch den Besuch bei ihr im Bergell eskalieren.

Erschienen am 6. April 2023
Von Birgit Schmid

Nach etwas über einer Stunde wirft sie mich raus. Wir hatten über Pornografie in der Kunst, über Zensur und Triggerwarnungen gesprochen und immer mehr gestritten, Miriam Cahn führt aus, widerspricht, lacht los und fegt vom Tisch. Immer wieder Ausrufe, das sei «kompletter Quatsch» und dass ihr andere Meinungen «wurscht» seien. Dann wandelt sich das Gespräch zur Prüfung. Welche Ausstellungen ich besucht hätte und ob ich ihr Buch «Das zornige Schreiben» kennte. Wenn ja, warum ich ihr die falschen Fragen stellte. Warum ich überhaupt fragte.

Als ich auf die Psychoanalyse zu sprechen komme und darauf, wie sich das Verdrängte und seine Wiederkehr in ihrem Schaffen niederschlügen, bricht sie das Interview ab. Natürlich gebe es ihr Interesse daran. Aber sie antworte nicht darauf. Das bringe nichts mit mir.

Die Schweizer Künstlerin Miriam Cahn, 73 Jahre alt, gebürtige Baslerin, eine der bedeutendsten Künstlerinnen der Gegenwart, vielfach geehrt, vielerorts ausgestellt, mag nicht alle Fragen. Sie ist bekannt für ihre direkte, man muss sagen: unflätige Art. Unbequem und unangepasst sei sie, ist lobend zu lesen. Knallhart, polemisch, schwierig. Ich war gewarnt, als ich ins Bergell fuhr, wo Cahn seit Jahren lebt und arbeitet.

Dabei war sie bereit zu reden, denn wütend ist sie in diesen Tagen, und zwar noch mehr als sonst. In Paris, wo ihr eine Ausstellung gewidmet ist, wurde sie soeben wegen einer sexuell expliziten Darstellung angeklagt. Unter den 200 Werken, die im Palais de Tokyo unter dem Titel «Mein serieller Gedanke» zu sehen sind, befindet sich ein Bild, das eine Fellatio zeigt, zu der eine als Mann erkennbare, kräftige Figur mit erigiertem Penis eine kleine, vor ihm kniende Figur mit gefesselten Händen zwingt. Daneben hält er eine zweite, zerbrechlich wirkende Figur fest.

Cahn verarbeitet in diesem Bild namens «Fuck Abstraction» wie in weiteren Werken die Greueltaten im Ukraine-Krieg. Es sind die schrecklichen Szenen aus Butscha und Irpin, die sie zur künstlerischen Umsetzung drängten und die sie in ihrem bekannten expressiven, rohen Stil darstellt. «Sexuelle Gewalt ist eine Kriegswaffe und die Sexualität des Mannes im Kriegsfall ein reines Unterdrückungsinstrument», sagt sie über das Thema, um das ihr Schaffen kreist.

Sexuelle Gewalt ist eine Realität

Der Aufruhr wurde Anfang März von französischen Kinderschutzgruppen und selbsternannten Kämpfern gegen Pädokriminalität initiiert, die in besagtem Bild Kinderpornografie erkennen wollen. Es verhöhne Vergewaltigungsopfer, lautet ein Vorwurf. Als sich das Bild in den sozialen Netzwerken verbreitete, waren schnell 16 000 Unterschriften zusammen, die in einer Petition seine Entfernung aus der Ausstellung verlangten.

Beim Palais de Tokyo gingen Morddrohungen ein, so dass das Museum sich genötigt sah, in einem Statement Stellung zu nehmen zu dem, was offensichtlich ist: Miriam Cahn geht es in keiner Weise darum, Kinderpornografie zu verherrlichen. Sie wolle nicht schockieren, sagt sie, sondern prangere an, was Kriegsrealität sei. Sie betont zudem, dass es sich bei der zum Oralsex gezwungenen Figur um ein erwachsenes Opfer handle, die Proportionen drückten bloss das Machtverhältnis aus.

Als wir zum Gespräch abmachen, weiss Miriam Cahn noch nicht, wie das Gericht entscheiden wird. Und wie würde sie reagieren? Wäre sie bereit, ein Zeigeverbot des Bildes zu akzeptieren oder schon nur die Erhöhung des Eintrittsalters auf 18 Jahre? An der Documenta in Kassel packte sie 1982 ihre Bilder wieder ein, da man ihr keinen eigenen Raum zur Verfügung gestellt hatte. Cahn geht kaum Kompromisse ein, die sie von anderen einfordert. Sie werde im Alter radikaler, so sagt sie selber.

Das Dorf Stampa im Bergell erreicht man von St. Moritz in einer Stunde, das Postauto kriecht die engen Kurven des Malojapasses hinunter Richtung Chiavenna. Miriam Cahn lebt allein in ihrem Atelierhaus, einem ausgehöhlten Betonblock. Gleich in der Nähe wurde der Künstler Alberto Giacometti geboren. In einer riesigen Halle stehen Bilder umgekehrt an der Wand, in einem Becken schwarze Kreide, die wie Pferdeäpfel aussieht. Mit ihnen erstellte Cahn ihre grossformatigen Zeichnungen. Sie malte sie liegend, auf ihnen kriechend und gehend.

Cahn, die mit ihren verstrubbelten Haaren und im Fleecepullover wie eine Hüttenwartin aussieht, wie die «Süddeutsche Zeitung» sie beschrieb, führt in den Wohnraum nebenan. Dieser besteht aus einem Tisch, einer Kochnische, offenem Bad, Bett und Bücherwand. Durch das grosse Fenster gegen Süden wird sie später auf das imaginäre Mittelmeer zeigen. Bald würden sich die Leute wieder an den Stränden vergnügen, wo jederzeit tote Flüchtlinge angespült werden könnten, wird sie sich empören. Das beschäme sie.

Cahn malt immer wieder Menschen auf der Flucht, während des Balkan- und des Golfkriegs und nach der Flüchtlingswelle 2015, oftmals als ausgesetzte, geisterhafte Wesen. Wie Quallen schweben sie in einem leuchtenden Blau. Tod im mediterranen Glück, der Schrecken durch Kontrast. Auch Cahns Vater, ein jüdischer Kunsthändler, emigrierte 1933 in die Schweiz. Sie sagt: «Kunst muss engagiert sein.»

Die Künstlerin Miriam Cahn vor einem ihrer Bilder.

Umso mehr sieht sie sich durch die Kritik in Paris verkannt. Für Miriam Cahn ist klar: Hinter dem Protest um «Fuck Abstraction» ständen die Rechten. Die «Neofaschisten», wie sie sie «der Bequemlichkeit halber» nenne, seien auf dem Vormarsch: Ihre Absichten seien überall dieselben, es gehe ihnen nicht um das einzelne Bild, sondern um einen Angriff auf die Kunstinstitutionen und deren Legitimation.

Tatsächlich kamen die Angriffe auf Miriam Cahn etwa von Caroline Permantier, Abgeordnete des Rassemblement national und ehemalige Sprecherin der Partei von Marine Le Pen. Doch Cahn pauschalisiert. Nicht jeder, der ihr Bild geschmacklos findet, dürfte rechtsextrem sein.

Empörung über «die Faschisten»

Zählen kann Cahn auf die Unterstützung ihres linken Umfelds. In den Mails, die sie mir weiterleitet, solidarisieren sich namhafte Schriftsteller, Künstlerinnen und Galeristen aus der Schweiz und Deutschland mit ihr. Sie nennen die Vorgänge in Paris «ekelhaft», sprechen Cahn Kraft zu und empören sich über die «Faschisten», die mit Themen wie Kindsmissbrauch oder «Selbstbestimmung von Trans*personen» Hetze betrieben. Jemand schickt das Foto eines Voodoo-Rituals, bei dem der Name des Feindes verbrannt wird, um sich von seiner negativen Energie zu befreien. Als Vorschlag, wie auf die Kritiker zu reagieren sei.

Nicht dieser Exorzismus dürfte bewirkt haben, dass Cahns Fellatio-Bild nun doch hängen bleiben darf. Sondern das Gericht in Paris argumentierte mit der Kunst- und der Meinungsfreiheit.

Die Künstlerin ist erleichtert. Mit den Einordnungen und Erklärungen zu ihrer Ausstellung im Palais de Tokyo, die es von Anfang an gab, kann sie leben. Gut findet sie es nicht, dass man die Leute wegen potenziell schockierender Inhalte warnen muss. «Triggerwarnungen sind ein Witz», sagt sie. «Wenn es sie braucht, damit ein Museum rechtlich geschützt ist, akzeptiere ich das knapp. Letztlich bevormundet man die Leute damit, denn sie besuchen eine Ausstellung ja freiwillig.» Es sei eine umso grössere Heuchelei, da Bilder realer Gewalt heute überall frei zugänglich seien. Und wie lange wird es dauern bis zum nächsten Fall? Was, wenn Museumsdirektoren den Zensurwünschen nachgeben und nicht für die Künstlerinnen und Künstler einstehen?

Wie in der Literatur nehmen Säuberungsversuche auch in der Kunst zu. Dabei kommen die Angriffe nicht nur von rechts. In New York forderten linksliberale Kreise 2017 ebenfalls in einer Petition, das Gemälde «Träumende Thérèse» von Balthus aus dem Metropolitan Museum zu entfernen: Der mutmasslich pädophile Blick ihres Erschaffers könne anstössig sein und Gefühle verletzen. Was sagt sie, die linke Feministin, zur Cancel-Culture von links?

Auch diese finde sie natürlich doof, wischt sie die Frage weg und sagt: «In der Sexualität gibt es kein Schwarz-Weiss, und die Kunst bildet dieses Zwiespältige ab. Sie ist interessant, wo sie mehrdeutig bleibt, aber klar ist in der Position.» Natürlich könne das unangenehm berühren: «Aber wer sagt, dass Kunst angenehm sein soll?» Deshalb verstören auch ihre Bilder. So zieht sich der entblösste, schutzlose Körper leitmotivisch durch ihr Werk. Sie holt aus dem Unbewussten, was uns verschlossen bleibt oder was wir abwehren, und visualisiert es direkt und plakativ. Lust, Gewalt und Schmerz, Verführung und Versehrtheit.

Frauen sollen kriegerisch sein

In ihrem figurativen Werk finden sich oft androgyne Mischwesen. «Für mich gab es schon immer ganz verschiedene Menschen jenseits der Kategorie Frau und Mann», sagt Cahn. Alle sind gleichwertig. Deshalb hat sie kein Verständnis für Frauen wie die Schriftstellerin J. K. Rowling. «Pseudofeministinnen sorgen sich um Frauenrechte, nur weil auch Transpersonen für ihre Rechte kämpfen – das ist dummer Seich.» Wir hätten doch ein Gehirn, um beides zusammenzudenken. «Damit gibt Rowling nur wieder den Rechten Munition.»

Miriam Cahn begann während der Frauenbewegung in den siebziger Jahren mit aktionistischer Kunst und Performances. Künstlerinnen wurden damals sichtbarer. Seither bekämpft sie Geschlechterstereotype. Frauen seien nicht friedfertiger als Männer, sagt sie. «Damit spricht man den Frauen das Menschsein ab.» Aggressiv, zornig, wehrhaft, das sollten auch Frauen sein. Sie hält nichts vom Friedensmanifest von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, dieses sei nicht einmal feministisch. «Man kann beim Ukraine-Krieg nicht mit Frieden argumentieren. Statt eine Regenbogenfahne vors Fenster zu hängen, sollte man Stellung beziehen.» Europas Antwort auf den Aggressor Putin könne nur die militärische Aufrüstung und Hilfe für die Ukraine sein.

Als ob sie vorzeigen wollte, wie sich weibliche Wut äussert, antwortet sie immer ungehaltener. Ich sähe Zusammenhänge nicht, sei falsch informiert. Ich hätte nicht einmal die Ausstellung in Paris gesehen.

Dennoch müssen wir noch über den Streit um die Kunstsammlung des Waffenfabrikanten Emil Bührle sprechen. Als der Erweiterungsbau des Zürcher Kunsthauses eröffnet wurde, machte der Präsident der Stiftung Bührle an einer Pressekonferenz ein paar unbedachte Äusserungen über den Kunsthandel während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz. Daran hätten sich auch Juden beteiligt, sagte er, zudem seien diese vom Staat nie verfolgt worden. «Da jagte es mir den Zapfen ab», sagt Cahn, «als Künstlerin und als Jüdin.» Sie schrieb einen offenen Brief, in dem sie damit drohte, ihre Bilder aus dem Kunsthaus abzuziehen: Sie wolle sie zum Ankaufpreis zurückkaufen. Sie habe schon gewusst, dass das rechtlich kaum möglich sei.

Inzwischen anerkennt sie das Bemühen des Kunsthauses um mehr Transparenz. Die neue Direktorin Ann Demeester will die Künstlerin demnächst im Bergell besuchen. Cahn, so lässt es das Kunsthaus verlauten, habe eingewilligt.

Miriam Cahn sagte einmal, Moral habe in der Kunst nichts zu suchen. Gibt sie sich denn nicht selber hochmoralisch? Es ist nicht die letzte Frage, der sie sich verweigert. Wenig später stehe ich draussen vor der Tür.