Header

Hauptnavigation

Lea Ernst

Newcomer-Preis

Lea_Ernst_Newcomer

Lea Ernst (32) ist freie Reporterin und Fotografin. Ihr erstes journalistisches Praktikum begann sie im August 2020 beim «SonntagsBlick-Magazin». Für ihre Geschichten begleitete sie dänische Nerzzüchter, die 19 000 Tiere töteten, sprach in Norwegen mit Steuerflüchtlingen und liess sich im Kantonsspital Basel eines der stärksten Halluzinogene der Welt durch die Adern jagen. Zuvor studierte sie Kommunikation und Medien an der ZHAW und dokumentierte die Hilfsprojekte einer NGO in Sri Lanka. Neben dem freien Journalismus ist sie Teilzeit Textchefin der Migros. Seit dem Abschluss der Reportageschule Reutlingen 2024 lebt sie wieder in Zürich.

laudatio

von brigitte hürlimann

Es ist Montag, achtzehn Uhr. Das Lokal noch menschenleer. Die beiden Barkeeper, ein bosnischer Muslim und ein serbisch-orthodoxer Christ, stecken noch mitten in den Vorbereitungen für die bevorstehende Nacht. Wir befinden uns in Sarajevo, am Rande der Altstadt, es ist Sommer 2024. Von den Gästen oder von den Musikern, die hier auftreten werden, noch keine Spur.

Aber ernsthaft: Wer beginnt den abendlichen Ausgang, der bis in die frühen Morgenstunden dauern wird, schon um sechs Uhr abends?

Es ist Lea Ernst, die in dieser Bar steht, die früher einmal ein Kino war: das Cinema Bosna. Die Journalistin aus der Schweiz steht da und hat Fragen. Sehr viele Fragen. Glück für sie, dass der bosnische Barkeeper Deutsch spricht, ja sogar die Schweiz kennt, da er im Winter regelmässig durch die Weihnachtsmärkte tourt und Kuchen verkauft.

Wie er mit den Fragen der Schweizer Journalistin bombardiert wird, realisiert er rasch, dass er seine Chefin wecken muss, die in den frühen Abendstunden noch in der Vorführkabine des ehemaligen Kinos schläft – es ist ihre winzige Wohnung, nur ein paar Quadratmeter gross.

Sena Mujanović kommt in die Bar hinunter, ziemlich schlaftrunken, und auch sie gibt der jungen Journalistin bereitwillig Auskunft. Die Chefin erzählt, wie sie 1973 als Studentin im Kino Bosna Billette verkaufte; in einem Land, das damals noch Jugoslawien hiess und von Tito regiert wurde. Wie sie sich in den Kinodirektor verliebte und zu ihm in die Vorführkabine zog. Wie nach Titos Tod das Land zerfiel und die Kriege begangen. Wie Sarajevo in den 1990er Jahren unter serbischer Belagerung stand. Und dass ihre beiden Söhne von Scharfschützen getötet wurden. Eldin und Adnan wurden keine zwanzig Jahre alt.

So gegen 21, 22 Uhr beginnt sich das Lokal zu füllen. Gespräche sind ab sofort kaum mehr möglich. Die Band spielt alte jugoslawische Lieder, «maximal leidenschaftlich» und «maximal verstärkt», wie es Lea Ernst beschreibt. Alle singen sie mit. Es wird getrunken, getanzt und geraucht – so als ob es kein Morgen gäbe. Und mittendrin sitzt die Journalistin mit ihrem Notizblock, brüllt hin und wieder einem Gast eine Frage ins Ohr. Kurz vor drei Uhr morgens packt die Band ihre Instrumente ein und faltet Sena die Tischdecken zusammen. Für heute ist die Party beendet.

Lea Ernst steckt ihren Notizblock ein. Zurück in der Schweiz, wird sie einen Text verfassen, der uns direkt ins Kino Bosna katapultiert – und in Erinnerung ruft, welche Schrecken die Menschen im ehemaligen Jugoslawien durchgemacht haben. Es sind düstere Zeiten, die bis heute nicht überwunden sind. Auch davon berichtet Lea Ernst. Herzliche Gratulation zum Newcomer-Preis und zu einer Reportage mit Tiefgang, die wir so schnell nicht vergessen werden.

Cinema sarajevo

Das Kino Bosna überlebte einst als einziges der bosnischen Hauptstadt die serbische Belagerung. Heute wirtet darin Sena, die im Krieg ihre Söhne verlor. Ihre Gäste prosten sich voller «Jugonostalgie» zu.

Erschienen am 22. Dezember 2024
Von Lea Ernst