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Ivo Mijnssen

Zürcher Journalistenpreis

Ivo Mijnnsen-Dominic-Prison

Ivo Mijnssen ist seit 2022 Ukraine-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Der 43-jährige promovierte Osteuropa-Historiker befasst sich seit zwei Jahrzehnten intensiv mit dem postsowjetischen Raum. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine hat er das Land auf mehr als einem Dutzend Reisen besucht. Oft kooperierte er dabei eng mit dem vielfach ausgezeichneten NZZ-Fotografen Dominic Nahr. Gemeinsam verfassten die beiden Reportagen aus allen Landesteilen, mehrfach auch direkt von der Front. Gegenwärtig arbeiten sie an einem Buch über die Ukraine. Es soll zeigen, wie der Krieg die Gesellschaft verändert hat.

laudatio

von dirk schütz

Es gibt Texte, die gewinnen durch die Zeit – dieser prämierte Text ist einer von ihnen. «Pokrowsk wartet auf die letzte Schlacht», lautet die Überschrift des Artikels von Ivo Mijnssen, den die NZZ am 28.August 2024 auf zwei Seiten druckte. Fast am Ende, zu Anfang des drittletzten Absatzes der aufwendigen Reportage, heisst es: «Am Vorabend der Schlacht ist die Zukunft von Pokrowsk vollkommen ungewiss».

Bis dahin sehen wir die Grausamkeit durch die Augen des Reporters Mijnssen und die Linse des Fotografen Dominic Nahr, die fünf Tage in der umkämpftesten Stadt der Ukraine und ihrer Umgebung recherchierten und dabei, das muss immer wieder betont werden, stets auch ihr Leben riskierten: Wie die Soldaten Ragnar und Chimik – nur ihre Kampfnamen dürfen genannt werden – , ihre Überwachsungsdrohne mitten in der Nacht über die russischen Stellungen steuern und nicht einmal unter freiem Himmel eine Zigarette rauchen dürfen, weil die Glut sie den Gegenangriffen der russischen Drohnen aussetzen würde. Wie die Arbeiter aus der nahen Kohlemine Schützengräben ausheben und sie mit Stahlgittern verstärken. Wie eine Frau namens Julia mit ihren beiden Söhnen nach dem russischen Beschuss ihres Hauses ins Aufnahmezentrum von Pokrowsk eingeliefert wird. «Ich brauchte einen Schuss Schnaps, sonst hätte ich es nicht geschafft. Aber ich musste gehen, wegen der Kinder.» Wie Leonid unter Bomben geboren wurde in der Geburtsklinik, die fast menschenleer ist, genauso wie Spielplätzte und Parks der Stadt. «Leider ist Pokrowsk kein Ort mehr für Babys», klagt die ausgemergelte Mutter. Wie sich die Bewohner an die letzten Alltagsreste klammern: Noch fahren die öffentlichen Verkehrsmittel, einige Cafés sind geöffnet, die Journalisten werden sogar in ein verstecktes Restaurant mit Garten eingeladen – dort gibt es trotz Alkoholverbot den lokalen Champagner, vor der russischen Besetzung in der Stadt Bachmut produziert. Und auch die Gegenseite tritt auf – die Journalisten werden von einem pro-russischen Mann beschimpft, als sie ihn befragen wollen: «Verpisst Euch, und hört auf, Selenski zu unterstützen! Ohne Euch hätten wir diese ganze Scheisse nicht.»  

Ja, es gibt sehr viele Vor-Ort-Reportagen dieses brutalen Angriffskrieges. Aber dieser Text beschreibt das Leiden extrem nah und dennoch neutral, extrem anschaulich und nie klischeehaft, extrem nüchtern und dennoch hoch empathisch. Und sie lässt einen gerade bei der aktuellen Lektüre schaudern: Wenn das Leiden so gross war: Wie gross muss es jetzt sein beim Verfassen dieser Laudatio – acht Monat später? Denn Pokrowsk ist noch immer nicht gefallen.  


Vor der letzten Schlacht: Fällt Pokrowsk, könnten die Verteidigungslinien auf breiter Basis einbrechen

Nur noch zehn Kilometer sind die Russen von der strategisch wichtigen Stadt im Donbass entfernt, und sie rücken weiter vor. Die ukrainischen Soldaten müssen kämpfen – und die Zivilisten entscheiden, ob sie fliehen oder auf eine ungewisse Zukunft warten.

Erschienen am 28. August 2024
Von Ivo Mijnssen (Text), Dominic Nahr (Bilder), Pokrowsk